Helko Reschitzki, Moabit

Am Sonntagmorgen endlich Taubenruhe. Zwei Echelhäher kreischen durch den Vorderhof, ein dritter sitzt hinten still auf meinem Balkon – was ausreicht, um die vermeintlichen Friedensboten einstweilen zu vertreiben. Bereits um fünf Uhr 17 Grad, nachmittags werden es 32 sein. Frühstück. Zum See. Auf den Bahnhöfen wird großflächig der „Erste nationale Veteranentag“ beworben. Am gegenüberliegenden Ufer singen Jugendliche a capella spanische Popsongs. Der alte Ex-Jugo neben mir auf der Buchtbank sagt: „Geht schon zweite Stunde so.“ Wir baden, die Kids grooven. Nun kommen aus einer Bluetooth-Box Diskosongs. Kamerad Ćevap: „Müde vom Singen, Tonband an.“ Wir freuen uns über das Wetter, das Wasser, die Kids, den perfekten Tagesbeginn. Andere sitzen lieber in der Bude und scrollen durchs Smartphone – Freund Balkanovic: „Goldener Weg immer wichtig!“ Der Schlachtensee ist ein Kraftort – manchmal bringt sogar jemand sein krankes Haustier mit, damit es dort wieder Lebensmut schöpft.

Auf dem Rückweg lese ich in der S-Bahn das Erinnerungsbüchlein von Hedwig Koch zuende – geboren 1872, gestorben 1945, zweite Ehefrau von Robert, dem Bakteriologen. Als das Verhältnis beginnt ist sie 17 und er 46. Er benutzt die Minderjährige als Versuchsobjekt für sein sich später als schädlich herausstellendes Schwindsucht-Mittel Tuberkulin – mit den Folgen hat sie ihr Leben lang zu kämpfen. Sie begleitet Robert auf vielen Expeditionen, ist dabei aber mehr Anhängsel als Partnerin. Ihre eigenen Ambitionen als aufstrebende Malerin und Schauspielerin stellt sie komplett zurück. „Hedchens“ glücklichste Stunden sind die, wenn sie nach Mitternacht neben ihrem Mann am Schreibtisch hocken darf und er ihr „als ob er sie segnen würde“ über den Kopf streicht. Die Reiseberichte sind nicht minder haarsträubend – da wird ihr, als sie an Malaria erkrankt, für die Rückfahrt einfach mal so ein „Kannibalenjunge“ als Schiffsdiener mit an Bord gegeben. Währenddessen knallen die Männer weiterhin Wildtiere ab. Damit sie den gewohnten Tischstandard halten können, vergraben die Engländer in der Wüste Silberservices. Hedwig wird enterbt und verleumdet. Sie verbittert, findet aber nach Roberts Tod auf Asientrips ein wenig inneren Frieden. In Japan nimmt sie bei einem Zen-Meister Unterricht. Gerade mal hundert Jahre ist das her.

