Helko Reschitzki, Moabit
Milchiggraublauer Mittwochmorgen. Ab um sieben von 15°C rasant wärmer werdend. (Um 12 Uhr sinds bereits 24°.) Schwül. Als ich aus dem Haus trete, nach langer Zeit mal wieder die Schreie von Möwen. Vor ein paar Jahren waren die über Nacht plötzlich da – warens vorher nicht in Moabit (zu meiner Zeit). Sind wohl zwischen Spree und Westhafen unterwegs. Dabei gibt es hier kaum Touristen, von deren Abfällen sie sonst leben, vor allem an den Dampferstrecken. Finden im Kiez offensichtlich trotzdem ausreichend zu fressen.

Am Schlachtensee weiter die Haubentaucherminimalentwicklungen – jeden Tag etwas mehr Radius, Kraft, Federn, Skills, Selbständigkeit. Treffe ein Rentnerärchen, das ich vom letzten Jahr kenne, da knüpft man dann entspannt an alte Wasservogelgespräche an. Der Mann und ich eine Armlänge von den Haubentauchern entfernt. Wir freuen uns, wie schlau die Natur das alles geregelt hat, auch die Teilung der Aufgaben. Er meint, er und seine Frau hätten das seinerzeit auch so gut hinbekommen, muss darüber aber selber lachen. Ich hatte in der Bucht noch nie ein unangenehmes Gespräch, nur einmal ein etwas verstrahltes mit einer drogenzerschossenen, ehemals berühmten DJane. War aber auch nett. Uhrzeit und Ort sind gute Arschlochfilter.

Am Abend zuvor in Prenzlauer Berg die Buchvorstellung von HEL Toussaints Gedichtband „Ebenholzöperchen“, für das ich die Bilder angefertigt habe. Kneipe mit Bühne. Ich stelle die Originale aus. HEL in Bestform: erzählt, liest, singt, streicht den Bart, gibt Buchtipps. Das Publikum aufmerksam; lacht, applaudiert, wo es passt; es geht um „Afrika“ – alles komplex, eher ernst. Das Siebdruckbüchlein ist gut geworden – gestern saßen der Drucker, der Setzer, HEL und ich erstmalig zusammen an einem Tisch. Planten gleich Neues. Basis für die entspannte Zusammenarbeit war das Vertrauen in das Handwerk und die Verlässlichkeit der anderen. Hat geklappt – klappt oft nicht.

Im Publikum ein Kollege und Bekannter von mir, Wolf, 82 Jahre alt, hellwach im Kopf. Wir unterhalten uns länger. Zum Beispiel über die zunehmende Dünnhäutigkeit der Leute, deren Ausraster, der feste Glaube an krude Verschwörungen. Da er in Mecklenburg auf nem Dorf wohnt, hört er dieselben Konspirationsstorys wie ich – vom Staat, der das Wasser vergiftet oder den Chemtrails, die unsere Gedanken kontrollieren. Gabs alles schon im Mittelalter – nur ohne Flugzeuge. Wolf hat zu DDR-Zeiten unter anderem die Kulissen fürs Sandmännchen gestaltet und gehört so zu den allerersten Menschen in meinem Leben, die durch ihr Werk meine Fantasie beflügelt haben – und heute bekiekt er meine Bilder, so schließen sich Kreise …
Die Rückfahrt (mit riesigem Bildgepäck) komplett chaotisch – lande, da die Bahn ausfällt, in nem Bus, der mittendrin seine Nummer und Route ändert. Der Fahrer sagt nur, dass er dazu nüscht sagen kann, eine Mitreisende meint: Na, ditt ist doch schon seit einem Jahr so wejen der Brücke! Hammse das nich mitgekricht?! Ne, bin nich von hier. Ich steig aus und irre durch die ostberliner Pampa. Irgendwann weiß dann aber jemand, wo ne brauchbare Ersatzhaltestelle ist.
Ein langer Tag – zu dessen Ausklang ich im Pestbuch von Hoeniger auf einen dollen Satz stoße: „Es mag den Menschenfreund mit tiefer Trauer erfüllen, aber in dieser Welt wird nichts leichter verschmerzt und rascher ersetzt, als der auch noch so bedeutende Verlust an Menschenmaterial.“ Geschrieben 1882. Aber auch danach allzu wahr, wenn man an die beiden großen Kriege, die Spanische Grippe, Armenien, den Vietnamkrieg, AIDS, Biafra, Mao oder Stalin denkt …
