Helko Reschitzki, Moabit
Der Palmsonntag

Die Stadt Jerusalem in der Provinz Judäa steht seit 90 Jahren unter römischer Beatzung. Es herrscht eine angespannte Atmosphäre: Die Römer haben Angst vor Aufständen, da viele der Juden zunehmend unzufrieden sind und zudem einen von Gott Gesandten erwarten, der sie von der Unterdrückung befreien soll. Immer öfter hören sie von den schier unglaublichen Taten eines Wanderpredigers und Wunderheilers aus Nazareth, der auf den Namen Yeshua hört. In ihm sehen sie bald ihren Erlöser und Retter.
Der Prediger Johannes der Täufer kündigt während einer religiösen Zusammenkunft in der Wüste die Ankunft dieses Messias an und ruft die Menschen zur Buße und Umkehr auf, weil das Reich Gottes nah sei. Er bezieht sich dabei auf Prophezeiungen im Alten Testament und all die Taten Yeshuas, die auch ihm zu Ohren gekommen waren.
Es ist Nissan, der erste Monat des Jahres im religiösen jüdischen Kalender – Frühlingszeit. In Jerusalem feiern die Juden Pessach. Die Straßen sind voller Pilger, der Tempel ist belebt wie selten zuvor, der Duft von frischem Matzot und Weihrauch liegt in der Luft. Mitten im Trubel reitet nun Yeschua auf einem jungen Esel durch das Stadttor – genau so, wie es der Prophet Sacharja viele Jahrhunderte zuvor voraussagte.
Im Johannes-Evangelium in der Übersetzung Luthers wird dieser Einzug folgendermaßen geschildert – wobei der Name Jesus aufgrund der griechischen und lateinischen Übersetzungen des Neuen Testaments die im Westen gängige Form von Ýeshua war:
„Am andern Tag, da viel Volk, das zum Fest war, hörte, daß Jesus käme gen Jerusalem, nahmen sie Palmenzweige und gingen ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen Esel und setzte sich darauf; wie geschrieben steht: Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt, reitend auf einem Esel.“
(Verse 12 bis 15 aus Martin Luthers erster vollständiger Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche, das der wittenberger Drucker und Buchhändler Hans Lufft im September 1522 herausbrachte.)
Palmzweige waren im Judentum und in der römischen Kultur ein populäres Symbol, das für Sieg, Ehre und Freude stand. Obwohl die Zweige nur im Johannes-Evangelium (das circa 60-80 Jahre nach der Ermordung Jesu entstand) explizit erwähnt werden, könnte die Darstellung also historisch durchaus zutreffend sein, zumal Markus und Matthäus immerhin von „Zweigen von den Bäumen“ sprechen (während Lukas überhaupt keine Pflanzen oder deren Teile nennt).
Weil die Christen sich weigerten, den Römischen Kaiser als Gott anzuerkennen waren sie in den ersten drei Jahrhunderten nach der Kreuzigung Jesus im Römischen Reich immer wieder Verfolgungen ausgesetzt. Lokale Verwalter, deren Militärbefählshaber und einige der Kaiser verboten ihnen die Feste, ließen Textrollen vernichten, Gläubige töten, Kirchen entweihen und zerstören. Aus diesem Grund war es Christen oft nur nachts in Privathäusern möglich, weiterhin Gottesdienste abzuhalten. Diese Heimlichkeit verstärkte dann das ohnehin vorhandene Misstrauen in der Gesellschaft – so machten Gerüchte über „gefährliche Zeremonien“ wie das „kannibalistische Abendmahl“ die Runde, was die Sitution der Verfolgten nicht gerade vereinfachte.
Die Anerkennung des Christentums durch den römischen Staat war ein langwieriger Prozess. Erst 313 n. Chr. wurde es mit einem Edikt von Kaiser Konstantin I. legalisiert und dann 380 n. Chr. mit dem Edikt von Thessaloniki unter Theodosius I. zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben. Dies schuf die Grundlage für die Entstehung vieler Feste und des späteren Kirchenjahres.
Einer der ersten dieser neuen Festtage wurde der Palmsonntag: Inspiriert durch das Johannes-Evangelium, bildete sich in Jerusalem der Brauch, mit Palmzweigen in den Händen Loblieder auf Jesus und „Hoshia-na“ („Hilf doch!“) singend vom Ölberg in die Stadt zu ziehen. Die Prozession breitete sich dann im gesamten christlichen Raum aus und wird bis heute in Glaubensgemeinschaften weltweit zelebriert – zu den bekanntesten zählen die Feiern in Sevilla, Rom, San Fernando (Philippinen) und der Region Madre de Dios (Peru).
Die in Jerusalem selbst begangene Ölberg-Prozession war im Laufe der Geschichte immer wieder von Kriegen, Unruhen und Übergriffen betroffen, insbesondere in Zeiten großer Wirren wie der persischen und arabischen Eroberung, der Kreuzzüge oder der Zweiten Intifada (2000 bis 2005). Aufgrund der nicht unberechtigten Angst vor Anschlägen fand der Palmsonntagsaufzug zuletzt nur unter extrem hohen Sicherheitsvorkehrungen statt.

Obwohl ich ein naturreligiös angehauchter Agnostiker bin, der die Kirche als Institution in vielerlei Hinsicht verachtet, beginne ich die Karwoche mit Bachs „Johannes-Passion“, 1954 aufgenommen für Eterna, das Klassiklabel des VEB Deutsche Schallplatten Berlin, mit dem Thomanerchor und dem Gewandhausorchester Leipzig unter Günther Ramin.
Ach, mein Sinn, wo willst du endlich hin, wo soll ich mich erquicken?
Bleib ich hier, oder wünsch ich mir Berg und Hügel auf den Rücken?
