Helko Reschitzki, Moabit

Nachmittagsausflug nach Spandau. Obwohl seit 1920 Groß-Berlin zugeschlagen, würde wahrscheinlich kein Spandauer und Berliner protestieren, wenn man sagt, dass Spandau und Berlin zwei Orte sind. Mich erinnert Spandau ein wenig an Lüneburg, zumindest der verkehrsberuhigte Altstadtkern, nur mit Bürgergeld und Mindesrente statt Beamtengehalt und Pension. Eine mir nicht unangenehme Mischung aus Goldkettchenschrebergärtnern und Ostblock/Arab/Türk-Jogginghosendauerträgern. Dazwischen Leute die arbeiten.
Schlenderrunde: Die Außenbereiche der Cafés und Restaurants sind rappelvoll; Piepel räkeln sich auf Rasen, Bänken und Mäuerchen in der Sonne; der Trinkertrupp an der Sternbergpromenade versucht durch stetige Bierzufuhr die eigene Promillezahl den BPM des träge taumelnd abgefeierten 90er-Jahre-Kirmestechno anzunähern.
Am Ufer der Havel löst sich ein Rätsel auf, dass mich lang schon beschäftigt – hier hat sich also die Heiterkeit versteckt – vielleicht lichtet sie ja mal wieder ihren Anker und macht sich auf den Weg zu all den Trübsalsblasorchestern um uns herum.

Im Kulturhaus sehe ich dann ein paar klasse Werke von Künstlern der düsseldorfer Art-brut-Gruppe „Studio 111“, wobei mir die Bilder „Ananas“ und „Pflaumen“ von Sidney Henning am besten gefallen.
Aus dem Oxfamladen nehme ich ein Buch über das Speziallager der sowjetischen Miltäradministration in Hohenschönhausen mit und aus der Stadtbibliothek eine wundervolle CD der londoner Sopranistin Grace Davidson mit liturgischen Liedern Hildegard von Bingens:
O viridissima virga / O virga viridissima / quae in natura florens /
exortus est in aeternum / per quam dulcis redemptio / mundum effulsit
O grünster Zweig / O Zweig, der du der grünste bist / der du blühst in der Natur / in dir ist aufgegangen die Ewigkeit / über dich ist gekommen die süße Erlösung in die Welt
Geschrieben um 1151 im Kloster Rupertsberg, das die Äbtissin ein Jahr vorher gegründet hatte – was perfekt zu diesem herrlichen Frühlingstag in der Spandauer Altstadt passt, welche nur 81 Jahre nachdem das Lied entstand, erstmalig schriftlich erwähnt wurde.
S-Bahnlektüre: Meeses „Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst“ (Suhrkamp) = Erzfreude.

