Frank Schott, Leipzig
Bahnreisen abseits der Schnellstrecken haben nichts Romantisches an sich. Am Sonntag fährt die Regionalbahn der ODEG von Parchim nach Ludwigslust nur so, dass man dort anderthalb Stunden auf den Zug nach Leipzig warten muss. Man könnte nun Trübsal blasend im Bahnhofskiosk bei Dosenbier oder, wenn einem das zu früh ist, bei Kaffee abhängen. Oder man macht sich wie ich auf die Socken und erkundet das Städtchen.
Nach zehn Minuten bin ich bereits am Schlosspark. Etwas irritiert schaue ich auf eine halb umgerissene Absperrung, mit der ich gewarnt werde, den Park zu betreten. Bäume könnten umstürzen. Lebensgefahr. Aber über eine Stunde im Kiosk am Bahnhof zu hocken, ist auch nicht ungefährlich. Vermutlich war die Warnung ein vergessener Rest von den letzten Herbststürmen, denn es sind recht viele Menschen mit und ohne Hund unterwegs.

Im Gegensatz zu den Waldböden in und um Leipzig wächst hier kein Bärlauch, dafür ist der Boden mit den weißen Blüten des schwach giftigen Buschwindröschens (Anemone nemorosa) bedeckt. Der Park selbst ist nicht gerade dicht bewachsen, so dass die Bäume viel Platz haben, um ihre Äste auszubreiten. Manche Baumkronen erinnern mich an Gemälde von Munch, an verwunschene Bäume, die im Nebel mit ihren verwachsenen Ästen nach Kindern haschen. Überall sind kleine Teiche angelegt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in diesem Teil des Parks spazieren war, wenn überhaupt. Ich denke, wir hatten nur Augen für das Schloss. Damals, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren.

Auch das war mir noch nie aufgefallen: Im Schlosspark steht eine kleine katholische Kirche, ungewöhnlich für den protestantischen Norden. Noch ungewöhnlicher ist, dass Kirchturm und Langhaus baulich getrennt sind. Und das Ungewöhnlichste überhaupt – sie sind nicht nur getrennt, zwischen beiden liegt eine Wasserfläche. Also muss der Glöckner den Gottesdienst früher entweder vorzeitig verlassen oder gleich ganz geschwänzt haben, um rechtzeitig zum Ausläuten im Turm zu sein.

Gegenüber vom Schloss liegt hinter einem künstlichen Wasserfall und einer Gartenfläche die evangelische Kirche. Was mir ebenfalls überhaupt nicht bewusst war: Die Mehrzahl der meist zweistöckigen Gebäude in der Altstadt sind komplett aus roten Ziegeln errichtet. Letztendlich ist die Innenstadt aber von überschaubarer Größe und eine halbe Stunde vor Abfahrt meines Zuges stehe ich dann doch im Bahnhofskiosk. Für einen Becher Kaffee und einen Schokoriegel – die habe ich mir nach dem Rundgang verdient.
Anmerkung des ehemaligen „Glöckners“ Helko Reschitzki: Zu meinen Aufgaben während des Zivildienstes in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde der St.-Marien-Kirche zu Parchim gehörte es 1990/1991, dafür zu sorgen, dass die Glockenschläge pünktlich erklingen. Meine Enttäuschung war groß, als mir der Pastor bei der Einführung zeigte, wie das vonstatten geht – der gesamte Vorgang war vollautomatisiert, ich mußte lediglich jeden Samstagnachmittag vor dem Abendläuten die Zeitschaltung für die nächsten sieben Tage umstellen, das wars schon. Da kam kein Anthony-Quinn- oder Adriano-Celentano-Feeling auf. Es ist anzunehmen, dass die Ludwigsluster Küster neuerer Zeiten ihren Turm so wie ich nur zur Besucherführung und zum Spinnwebenentfernen betreten und nicht mehr zum manuellen Läuten. Ich werde das mal bei meiner nächsten längeren Zugwartezeit vor Ort erfragen.
