Helko Reschitzki, Moabit
Sonntagmorgenmusik: Gustav Holst mit seiner siebenteiligen Suite „The Planets“. Bestehend aus den Sätzen: Mars, der Kriegsbringer – Venus, die Friedensbringerin – Merkur, der geflügelte Bote – Jupiter, der Bringer der Fröhlichkeit – Saturn, der Bringer hohen Alters – Uranus, der Magier – Neptun, der Mystiker. Bei der Uraufführung im September 1918 dachten nicht wenige, dass Mars ein Kommentar zum (in seinen letzten Zügen liegenden) Großen Krieg sei – jedoch wurde dieser Satz bereits vor dessen Ausbruch komponiert. Interessant, dass sich Holst aller Planeten unseres Sonnensystems annimmt, jedoch einen auslässt: Die Erde. Bei mir lief die Aufnahme mit dem St. Louis Symphony Orchestra, The Ronald Arnatt Chorale und den Missouri Singers unter Walter Susskind aus dem Jahr 1974.
Nach dem Frühstück katapultierte ich mich aus der sinfonischen Umlaufbahn und ging gemessenen Schrittes zur Wahlurne. Zum Mittag schlonzte ich gedämpfte Kohlrabiblätter nebst Strünken mit mildgesäuerter Genossenschaftsbutter in einen Kartoffelberg, in den zudem gebratener Räuchertofu, Muskatnuss, Sambal Olek, Salz und frisch geriebener Meerrettich kamen = planetarisches Entzücken. (Das war der bei Holst fehlende Teil: Die Erde, unsere Ernährerin.)
Die Temperaturen bewegten sich innerhalb einer Woche zwischen minus 9 und plus 12° Celsius. Der Schnee im Karree nun komplett geschmolzen. Der Himmel zunächst von einem hellgrauen Schleier bedeckt, dann zartblau. Die Vogelwelt sortiert sich lautsark neu. Während auf vielen Gehwegen letzte Weihnachtsbäume liegen, im Hof die erste Kinderkreidezeichnung des Jahres. Von Nachbarn holte ich mein 1,5-Kilo-Päckchen Wermutkraut ab – Bitterstoff für ungefähr anderthalb Jahre. Die Musik im Tageslauf immer weniger orchestral: Bach-Choräle, Monteverdis Madrigale, Bettellieder aus Apulien, Giovanni Gabrielis Stücke zum St.-Rochus-Fest – Rochus von Montpellier (ca. 1295-1379) war Schutzheiliger der Pestkranken, maladen Haustiere und Patron der Siechenhäuser.

Abends weiter in Dominik Grafs knapp dreistündiger Dokumentation „Jeder schreibt für sich allein“, die vom gleichnamigen Buch Anatol Regniers, der im Film ausführlich zu Wort kommt, angeregt wurde. Es geht um Schriftsteller, die in der Nazizeit nicht emigrierten: Hans Fallada, Ina Seidel, Hanns Johst, Will Versper, Jochen Klepper. Für mich viel Neues über Kästner und Benn. Hochinteressant! Die Flucht aufs Land und die Flucht aus dem Land, der Kampfbegriff „innere Emigration“, die Auseinandersetzungen mit Thomas Mann. Die feine Unterscheidung von Patriot, Nationalist, Nationalsozialist und Nazi. Die nicht oft genug zu wiederholende Erkenntnis, dass sich niemand seiner selbst sicher sein kann, weil in jedem von uns ein Unmensch schlummert, der unter gewissen Umständen zum Vorschein kommt. Wie nahezu alles von Graf ist das packend und differenziert erzählt und erweitert die Wahrnehmungs- und Denkhorizonte ungemein.

