Frank Schott, Leipzig
Ich war in Ziegenrück zur Kur. Ziegenrück: Das sind etwas über 600 Einwohner, zwei Hotels mit Gaststätte, ein Kurheim. Durch den Ort fließt die Saale. Links und rechts davon bewaldete Hügel, wobei man das Wirken des Borkenkäfers überall noch deutlich erkennt. Kilometerlange Wanderwege.
Die Kur: Nordic Walking, Rückenschule, Kräuterkunde, Kneippbaden in der Saale (nur die Füße), Klangschalentherapie, viele Gespräche.
Und Waldbaden.
Es war feuchtkalt. Leichter Nieselregen, Temperaturen um die null Grad und dazu ein eisiger Wind, der im Tal der Saale besonders unangenehm durch die Bäume fuhr. Zugegeben, ich war mies drauf.
Es folgen alle Klischees: Wir begrüßen den Wald. Wir wandern achtsam – ungefähr so übervorsichtig und unsicher wie ein Betrunkener, der bei der Polizeikontrolle eine Linie entlangtaumelt – den Weg den Hügel hoch. Wir machen die Augen zu und lassen uns von einem Gefährten durchs Gelände führen. Wir atmen tief ein. Wir lauschen den Geräuschen des Waldes.
Und – natürlich – wir umarmen einen Baum. Unsere Begleiterin hatte Matten mitgebracht. Alternativ durfte man sich an seinen Baum setzen. Oder seinen Baum betrachten. Ich betrachtete meinen Baum. Eigentlich zwei Bäume, zwei Birken. Ich dachte an Mutter und Kind, weil der kleinere und jüngere Baum einfach nur dastand, während der ältere und größere seine Krone wie beschützende Hände darüber wogen ließ. Das war … interessant. Tatsächlich habe ich meine beiden Bäume bei einem späteren Spaziergang („hier müssten sie doch sein“) wiedererkannt. Weil es so eisig war, wurde uns eine weitere Übung für diesen Tag erlassen.
Ich bekam eine Erkältung.

Die nächsten Tage plagte mich ein heftiger Schnupfen. Ich musste mein selbstauferlegtes Ziel an Wanderungen und Waldläufen arg zusammenstreichen und verbrauchte meinen eigentlich üppig geplanten Vorrat an Zellstofftaschentüchern in Windeseile.
Sonntag war’s dann, als ich mich endlich fit genug für eine längere Runde an der Saale entlang fühlte. Es war noch kälter geworden, aber der Wind hatte sich gelegt. Alles war mit Raureif bedeckt, der in der niedrig stehenden Sonne fast wie Schnee wirkte. Ich ging den üblichen Weg – dieses Mal geruhsamer, weniger Wandern, eher Spazieren – und entschied mich dann an der Kanuanlegestelle den asphaltierten Weg zu verlassen und zum Fluss zu gehen.
Und da stand ich dann.
Sonne. Raureif. Leises Plätschern der Saale. Ein krächzender Reiher, der sich aus dem Fluss erhob. Zwei Schwäne, die sich treiben ließen. Dieses goldene Licht überall: auf dem Wasser, den Blättern, dem reifbedeckten Schilf. Kein Waldarbeiter. Kein Wanderer. Keine Kinder. Kein Vogelgezwitscher. Absolut stille Natur. Nur Tropfen geschmolzenen Eises, die von den Bäumen fielen und auf dem Boden zerschellten.
Tropf. Tropf. Tropftropf.
Ich drehe mich langsam im Kreis. Ich schaue noch oben. Ich schaue nach unten. Vor mir der Fluss. Hinter und über mir die Bäume. Ich bade im Licht dieser kalten Wintersonne. Ich tauche völlig ein.
Da habe ich es verstanden.
Waldbaden.

