Christoph Sanders, Thalheim
Am Dienstagmorgen Kaltregen bei zwei Grad – der Tiefausläufer hat gewonnen. Maximal unangenehmes Wetter um aufs Rad zu steigen – von mir heute nur die nötigste Bewegung. Ich bekomme die Anfrage, bei einem Zeitzeugengespräch für einen erkrankten Dolmetscher einzuspringen. Eine Veranstaltungsreihe des Bistums, von der ich noch nie gehört habe. Es gibt keinerlei Honorar. Man will da also kostenlos eine Dienstleistung abgreifen. Ich lehne dankend ab.

Einkaufsfahrt nach Westerburg. 90 Prozent des in den Supermärkten angebotenen Fleischs stammt aus der Haltungsform 1, maximal 2. Wäre den Konsumenten wirklich bewusst, was da für Müll in ihre Gedärme wandert, wäre viel gewonnen. Ein Thema, das nur wenige interessiert, im besten Fall sieht man Essen noch als sozialen Akt. Aber selbst das wird in unserer Gesellschaft langsam zur Ausnahme; fürs gemeinsames Mahl sei „keine Zeit“ – so hör ichs von meiner Frau, vom Finanzarbeitersohn und von unserem Jüngsten, der länger mit seiner Frisur zu tun hat, als er fürs Frühstück braucht. Immerhin ißt er noch schnell etwas. Passend dazu sah ich am Samstag im Frankfurter Bahnhof ein Mädchen, das eine Kamera vor sich hertrug, in die sie im Gehen hineinsprach. Wann begann das eigentlich? Für mich markierten damals die Freisprechanlagen den Wendepunkt – bis dahin galten Menschen, die in der Öffentlichkeit laut vor sich her sprachen, als psychisch auffällig. Nun brabbeln sie alle – wenn sie nicht gerade schweigend auf ihre kleinen Displays starren. Selbst die „Freunde“ in Cafés, die zwar beieinander sitzen, sich aber nichts zu sagen haben. Sie haben nichts mehr zu sagen.

In „Sternstunde Philosophie“ im SRF sind die Philosophin Anne-Sophie Moreau sowie die Ärztin Giulia Enders zu Gast (deren „Darm mit Charme“ inzwischen 8 Millionen mal verkauft wurde). Sehr gut, wie Enders die Evolution als einen fortlaufenden Prozess erklärt, als ein lebenslanges Angebot an die DNA-Bausteine, im Organismus ständig neue Lösungen zu entwickeln. Die bisherige Sichtweise nahm ja an, dass evolutionäre Veränderungen über lange Zeiträume und Generationen hinweg stattfinden, sich unter Selektionsdruck die überlebensfähigste Variante durchsetzt („Survival of the fittest.“) (Möglichwerweise finden deshalb die Mimikryentwicklungen bei Schmetterlinge innnerhalb derselben Generation statt?) Und allein, was im Mikrobiom des Menschen passiert! Wie individuell die permanente Interaktion mit dem Wirt (uns!) ist. Da diese Prozesse „unsichtbar“ ablaufen, ist deren Wert für die meisten nebensächlich – wir sind eine Spezies der Oberflächenwahrnehmung. All diese in jüngster Zeit gewonnenen biologischen Erkenntnise sind enorm – aber wehe, Du erklärst das Laub im Vorgarten zur willkommenen Biomasse und mähst plötzlich Deinen Rasen nicht mehr!!! Die Philosophin mit Ausführungen zur Fermentierung – ich glaube, bei uns steht noch ein halbes Dutzend Schraubdeckelgläser herum …

Am Mittwochmorgen zarteste Himmelsfarben – das kalte Hoch hat sich wieder durchgesetzt. Unsere Girls haben ihre Outfits rechtzeitig hinbekommen; der Sohn schläft so lange, dass ich ihn aufrütteln muss. Für 13 Uhr ist eine Schulfreundin der Mädchen angekündigt, da werde ich mir besonders Mühe geben (müssen). Im Radio die Zahl des Tages: Vierzig Prozent der europäischen Handelswaren gelangen über den Suezkanal zu uns. Wie der Historiker Todd sagt: Die verarmende kontinentale Arbeiterklasse kauft die preiswerten Güter, die durch die Verlagerung ihrer eigenen Arbeitsplätze nunmehr billig produziert werden können. Man hält den Plebs bei Laune, indem man ihm die Möhren der Pauschalurlaube, Billigflüge und Schnäppchen (oder der Weihnachtsmärkte) vor die Nase hält. Besorgungen, Hausputz, Rachmaninovs erste sinfonische Dichtung.

Auffällig viel Verkehr auf den Straßen, ich dachte, die „Blackweek“ wäre vorüber (?!) Ich leiste mir beim Trödler die längst nicht mehr hergestellte Rennpumpe SKS Alustar, deren Machart ich bevorzuge. Inzwischen werden ja winzige Akkuluftpumpen verkauft – so eine Art Taschenkompressor. Der Frühabend im eigentümlich grau-blauen Licht, von weit her meine ich rosige Streifen zu erkennen (oder ists etwa ein zart angehauchtes Wölkchen?) Da ein riesiger Christstern den Großteil unserer Aussicht versperrt, bin ich froh, überhaupt etwas sehen zu können. Auch bei den Nachbarn wird sich nun aufs Fest eingestimmt – wie jedes Jahr steht bei ihnen ein überhaushoher illuminierter Weihnachtsmann im Vorgarten. Grundvernünftige Leute übrigens – neben ihrem Dackel ist die Deko das Auffäligste an ihnen. In den Nachrichten die Meldung, dass der Warzenbeißer „Insekt des Jahres 2026“ ist. Der Volksglaube schreibt ihm eine Wirkung gegen Warzen zu – er wurde aber aus einem anderen Grund auserkoren.

