Christoph Sanders, Thalheim

Völlig vernebelter Freitagmorgen – über zweihundert Meter Höhe sieht man nichts mehr. Haydns “Londoner Trios” erfüllen den Raum. Geschrieben 130 Jahre nach der Großen Pest von London, über die ich gestern in Samuel Pepys‘ Tagebucheintrag vom 4.9. 1665 las: „Es beunruhigte mich, an der Farm der Coomes vorbeizukommen, wo etwa einundzwanzig Menschen an der Plage gestorben sind, und wo ich erst vor drei oder vier Tagen im Hof eine noch unbestattete Leiche in einem Sarg liegen sah. Tag und Nacht steht dort jemand Wache, um die Menschen in den Häusern zu halten, da uns die Pest so grausam macht wie Hunde zueinander.“ „The Diary of Samuel Pepys“ gehörte zur Lieblingslektüre von Kanzler Helmut Schmidt. Als Wachhund der guten Erstversorgung richte ich für die Kinderschar das Frühstück. Meine Gattin nimmt neben Tee allenfalls im Internet georderte Apfelmarkfasern zu sich. Dabei ist unser Garten voller Pektine – man muss sich nur ein wenig an den Bäumen strecken. Die Kinder im Schulbasareinsatz: Selbstgebackenes wird feilgeboten; die dafür eingenommenen Spenden gehen an Projekte in Afrika.

Nach dem Sencha trinke ich Bohnenkaffee – für den es nun auch ein neues Narrativ gibt: Hohe Preise schützen vor Kinderarbeit. Im Radio wie immer zur Weihnachtszeit die Predigten zu den Sünden Völlerei und Süßwarenüberkonsum (gefährdet die Gesundheit) sowie Online-Retouren und sinnlose Käufe (gar nicht gut für Klima und Umwelt). Nochmal an der Beigbeder-Einleitung gefeilt. Jetzt gehts hoffentlich. Auch den Winterberg/Schmallenberg-Text überholt – immer wieder Worte tauschen, an der Satzstellung arbeiten usw. MIR ist so etwas nicht egal. Flaubert? Schrieb siebzig Seiten im Jahr – this is my man!

Nieselig – eine Wolkenmasse die ausgewrungen wird. Trotzdem mit dem Rad auf die Höhe. Dort Lachs mit Sellerie, Wildreis und Curry genossen. Die Glasfasertruppe auch bei drei Grad gewohnt fleißig. Sie werden arbeiten, bis sie 67 Jahre alt sind, das steht fest. Das nächste Rad für meine Jüngste steht im Sozialkaufhaus bereit. Ihr Geschenk vom Vorjahr, ein 1998er Mountainbike, ist längst zu klein. Händler Hassan konnte selbst in der Universitätsstadt Gießen ihr toperhaltenes Grundschul-MTB nicht verkaufen, nicht einmal für 20 Euro, nicht einmal an Flüchtlinge. Ihr allererstes Rad mit Schaltung zog ich 2019 aus dem Sperrmüll – es war nur ein Reifen platt … Im aktuellen Randonneur-Newsletter las ich, dass in den USA gerade der Markt für Kinderräder auseinanderdriftet: Wohlhabende kaufen ihren Kids nichts unter 1000 Dollar und würden nie auf die Idee kommen, ein altes Bike für 200 zu erwerben, weshalb solche Räder dann vom Markt verschwinden. Die Armen wiederum haben nicht einmal Werkzeig im Haus oder die 25 Dollar für einen neuen Mantel.

Samstagmittag nach Frühstück, Hausputz und Wäschemachen Fahrt ins Lufthansa-Drehkreuz und pulsierende Herz des Konsumismus Frankfurt/Main – der Teenie kehrt nach drei Monaten Le Mans heim sowie Ausstattung unserer jungen Ballerina. Mit dem Ballettladen endecke ich eine weitere Parallelwelt: Produkte, die nirgends sonst angeboten werden, für die es nicht einmal Werbung gibt. Mit Filz bezogene Schuhe, mit denen man beim Walzer endlos pirouettieren kann … Unser Teenie brachte mir einen Band des Objektpoeten Francis Ponge mit, den sie in ihrer Gastschule durchnahmen. Die dortige fast kasernenartige Strenge bei gleichzeitig freier Form hat ihr besser gefallen als das anpasserisch verlogene Strebervölkchen, das sie nun wieder hier erwartet … Auf der Autobahn business as usual – ich konnte nicht die Spur einer maroden, zerfallenden oder verzweifelten Gesellschaft entdecken. Es wird wohl doch noch ein wenig dauern, bis die gute alte Bundesrepublik verschwunden ist.

Ein grauer erster Advent bricht an. Die Kerze leuchtet. Während die anderen noch schlafen, sortiere ich Bücher und Platten – und bin nach wie vor auf der Suche nach der Zauberformel, mit der sich das Notwendige vom Überflüssigen trennen lässt. In der Berliner Zeitung die Meldung, dass die afrikanische Standard Bank das chinesische Cips-System einführen wird, so dass Zahlungen nicht mehr in Dollar abgewickelt werden müssen. Die Chinesen sind gerade dabei, ihre elektronische Alternativen und Kreditsysteme global zu etablieren, ohne die eigenen Kapitalmärkte richtig zu öffnen. Es geht darum, Abhängigkeiten zu schaffen. Das wird ein interessanter hybrider Krieg, der da mit den Weltzahlungssystemen entbrennt. Wie es der Historiker Todd sagte: „Das erfolgreichste US-Produkt ist der Dollar.“

Später auf die graufeuchte Bahntrasse. Die Sonnenkollektoren auf den Hochflächen sehen aus wie die Schuppen von riesigen Echsen; darüber Ventilatoren. Dorndorf II verliert verdient mit 0:2 – kein Spielaufbau, ein Eigentor. Das Benediktiner Weizen enttäuscht hingegen nicht. Es dunkelt rasch – wir werfen die Bäckerei an. Die Girls machen den Teig für ihre Sandkekse – eine schwere Geburt. Die schematischen Backbücher verraten einem ja auch keine Kniffe – „Zutaten verrühren“ das ist ungefähr so wie „Motor ausbauen“ in einem Werkstattbuch. Wir alle sind über die Vervollständigung der Familie froh – sehr froh! Das Salz in unserer Suppe ist wieder da.

Der Sonntag endet mit Francaix‘ „L’Horloge des Fleurs“ vom London Symphony Orchestra unter André Previn. Die Blumenuhr wurde frisch aufgezogen und wunderbar aufgenommen: Mein Zimmer wird zum Saal – diese Illusionsmaschine erstaunt mich immer wieder. An einem blaukühlen Montagmorgen an der Frostgrenze setzt dann das Smetana Quartet den ersten Akkord: Janáčeks Streichquartette. Sanftes Sonnenlicht. Bin ausgeschlafen für lokale Updates: Da der Musiklehrer hingeschmissen hat, wird unser Weihnachtskonzert ausfallen. Wenn sich niemand zur Nachfolge berufen fühlt, wäre diese Tradition damit beendet. In der Gießener Innenstadt soll es am Samstag mehr gekracht haben, als in den Medien mitgeteilt wurde.

Frische Luft, trocken und Südwestwind – eine angenehme Radrunde. Danach für ein weiteres Modell Innenlager und Kurbel vermählt. Sie soll so eng wie möglich laufen – was perfekt funktioniert hat. Das macht mich froh. Zum Tagesausklang Rudolf Serkin mit Schuberts Klaviersonate Nr. 20. Doll! Trockenes Klavier, dennoch nicht kalt und hart. Zwischen lyrischem Traum und Schrei. Ich besitze Schätze!

