Wenn du am 14. Oktober 1944 in Köln geboren wirst, während 4.000 Tonnen Bomben auf die Stadt niedergehen, du dabei mitsamt deiner Mutter in der Klinik verschüttet wirst, alle Säuglinge sterben, nur du nicht, hatte das Schicksal noch etwas mit dir vor. Du wächst auf in der Nachkriegszeit, gehst zur Schule, machst eine Kaufmannslehre, stehst am Fließband, kellnerst, wirst Model und fürs Kino entdeckt, drehst Filme mit Fassbinder, Warhol, Gus Van Sant, Werner Herzog, Dario Agento oder Fatih Akin, spielst in Hollywood-Blockbustern, Arthausfilmen, absolutem Trash mit. Bist Kunstsammler und Gärtner, hast bei alledem nie vergessen, wo du herkommst, wo man dich aus den Trümmern gebuddelt hat. Am Montag melden die Agenturen, dass am Tag zuvor, dem Totensonntag, Udo Kier gestorben ist. Ich habe bestimmt dreißig Filme mit ihm gesehen, der letzte dürfte das Finale von Lars von Triers „Geister“ gewesen sein. (Der Moment, in dem er in der 1. Staffel erstmals als riesiges Baby auftaucht, ist nicht nur mir unvergessen – man wusste nicht, ob man gerade halluziniert, lachen oder schreien soll.) Ich sah ihn als Hitler in Schlingensiefs „Die letzten Tage im Führerbunker“ und als Führer Kortzfleisch in „Iron sky“, zeigte in meiner Heimatstadt Parchim unter anderem „Lola“, „Lili Marleen“ und „Narziss und Psyche“ mit ihm. Mach et jot!

Ebenso am Montag der erste Schnee des Winters. Beim Baden gehe ich von der dichten, noch unberührten Uferdecke in das Wasser – es steht sich barfuß darauf viel angenehmer als auf der kalten Erde, auf Blättern oder auf Gräsern. Der Schnee taut innerhalb zweier Tage.

Am Dienstag fällt erstmalig seit Monaten das Schwimmen aus – ich muss mir erst einmal Neoprenhandschuhe besorgen. Dafür fahre ich in ein Taucher-Spezialgeschäft nach Steglitz, wo ich ein sehr gutes Gespräch mit dem jungen Verkäufer habe – am Ende wandert ein 5 Milimeter dickes Paar aus Chloropren-Kautschuk in den Rucksack.

Die nette Tischtennisdame, mit der ich neuerdings öfter mal etwas länger klöne, schreibt, dass sie heute nicht zum Spielen kommen könne, da sie erkältet daniederliege. Ich setze für sie umgehend eine Kraftsuppe der Traditionellen Chinesischen Medizin auf, bei der über Stunden Gemüse, Kräuter und Gewürze vor sich hin köcheln und anschließend durch ein feines Sieb gegossen werden. Trotz der langen Kochzeit bleibt die heilende Wirkung der Zutaten erhalten, da man mit dieser Prozedur die energetischen Kräfte (das Qi) extrahiert. Eine seit gut zweitausend Jahren bewährte Methode. Über meinen Besuch nebst Brühe freut sich die Schniefhüstelnde sehr und trinkt sogleich ein heißes Tässchen. Wie gewohnt quasseln wir uns fest.



Am Donnerstag laufe ich am Schlachtensee nach langer Zeit dem fast neunzigjährigen Naturschützerpärchen über den Weg – ein freudiges Wiedersehen! Wir sind sofort mittendrin im Vogelreport. Sie berichten von der alljährlichen Landung der Spießenten, die hier nun den Winter verbringen, und der Sichtung von gleich zwanzig Schwänen auf dem Wasser – sonst sieht man vier, fünf. (Die Zahl wird zwei Tage später von den beiden Sachsen bestätigt, die zudem wissen, dass die Vögel vom Nikolassee herübergeflogen sind, da dieser zugefroren ist.) Nebenbei beobachten wir ein Rotkehlchen und ein Eichhörnchen und gehen dann gemeinsam zur Bucht, wo ich vom Wasser aus (mit warmen Händen!) ebenjene Spießenten sehe.

Die Wassertemperatur lag zuletzt trotz des Schnees stabil bei fünf Grad. Nun ist das passiert, was mehrere Winterbader prophezeiten: „Irgendwann pegelt sich das ein und wird nicht mehr kälter – außer es friert, was selten mal vorkommt.“ (Oder wie es der Sachse in seiner unnachahmlichen Art ausdrückte: „Nooch vier gömmt Eis.“)

Am Freitag erreicht mich die Nachricht, dass ein Autorenkollege an Krebs erkrankt ist und gerade eine Chemotherapie macht. Da kaum ein Schreiber von den Texten leben kann, arbeitet er normalerweise als Fahrradkurier. Damit musste er nun notgedrungen aufhören und sich arbeitslos melden. Das Amt verschleppt den Vorgang, so dass er momentan vollkommen ohne Geld dasitzt und die Dezembermiete nicht zahlen kann. Ein gemeinsamer Bekannter bekam das zufällig mit – nun legen viele Kollegen und Freunde zusammen und werfen ihm das in nem Umschlag in den Briefschlitz. Aufs Konto dürfte man ihm nichts überweisen, da selbst Kredite als „Einkunft“ verrechnet werden, was zur Folge hätte, dass er perspektivisch gar nichts oder viel weniger bekommt als ihm zusteht. Und das, obwohl er immer ins System eingezahlt hat, und während einer Chemo – zum Kotzen!!!!!!

Am Samstag Trost durch Kontemplation im Museum Europäischer Kulturen, wo ich durch Áimmuin wandele – ein Arbeitsraum, in dem regelmäßig sámische Wissenschaftler und Kunsthandwerker die Sápmi-Sammlung erforschen, restaurieren und neu orden. Ich bin allein vor Ort und fühle mich sogleich wohl. Neben vielen Objekten, Interviews und wirklich guten Erklärungen sprechen mich vor allem die Kopien der Ritzzeichnungen aus den 1920er und 1930er Jahren an. Kunst, die mit dem Alltag zu tun hat, ist immer interessant.

