Frank Schott, Leipzig
Mein Leben bewegt sich momentan zwischen der Grauheit des Denkens, der Trägheit des Körpers und dem Irrsinn der mich umgebenden Welt. Wenn es nicht Momente des Lichts und der Freude gäbe – man müsste verzweifeln.

Die Schlagworte der letzten Tage in chronologischer Reihenfolge:
1. Wärme:
Vorige Woche gab es einige schöne Tage, die ich zum Fahrradfahren nutzte. Am vergangenen Donnerstag wollte ich ins knapp fünfzig Kilometer entfernte Altenburg. Dabei übersah ich ein Hinweisschild. Als ich es merkte, entschied ich spontan, nach Borna zu fahren – da war ich noch nie.
Wenn ich mich verlaufe, kostet mich ein Umweg möglicherweise Stunden und in jedem Fall Kraft. Wenn ich mich mit dem Rad verfahre, ist jeder Weg nur einige Pedaltritte entfernt – Distanzen schrumpfen zu Minuten oder Viertelstunden. Das ist das Schöne am Fahrradfahren.

Meine heutige Belohnung: Die malerischen Seen und Teiche in der ehemaligen Braunkohleregion. Letztes Herbstlicht auf letzten Herbstblättern. Zwischen Borna und Kahnsdorf sind einige Wege versperrt oder nicht mehr öffentlich zugänglich, so dass ich doch auf die Navigations-App angewiesen bin. Aber eingedenk meiner vorherigen Worte – mit einem Rad findet sich immer ein Ausweg.
Der hat’s allerdings in sich: Schweres Geläuf mit schwammigem Boden, rutschig und weich. Eine verfallene Straße ist so dick mit Matsch und Laub bedeckt, dass ich die Schlaglöcher nicht sehe – immer wieder pralle ich in ein Loch. Der Sattel knallt gegen meinen Hintern, der ganze Körper bebt unter den Stößen. Jedes weitere Mal, wenn ich erschütternd werde, brülle ich die Straße an: „Ja, gib’s mir! Ja!“. Trotz all der Blödelei bin froh, als es dann auf normalem und lediglich schlammigen Untergrund weitergeht – Schlaglöcher in Leipzig hatten mir einmal die Schraube, welche den Sattel fixiert, brechen lassen. Keine schöne Erfahrung.

2. Was die Wetterpropheten daraus machen:
Zum Freitag hin schlägt das Wetter allmählich um. In der Zeitung werden die monatsuntypischen Temperaturen mit den Panikworten „Saharahitze im November-Sommer“ beschrieben – aber damit sei es nun vorbei; es würde jetzt deutlich kälter werden, um nicht zu sagen: winterlich. Was für die Leipziger bedeutet, sich nicht nur wärmer anzuziehen, sondern auch, die Heizungen aufzudrehen.
Das ist der Stadt Leipzig, die das Klima retten will, ein Dorn in Auge. Flächendeckend sollen das lokale Gasleitungsnetz und intakte Gasheizungen rausgerissen und durch Fernwärme ersetzt werden. Unser Viertel soll Vorreiter sein. Da jeder, der rechnen kann, weiß, dass das ökonomisch und ökologisch Unsinn ist, werden jetzt Gesprächskreise eingerichtet. Die Kommune ließ an alle Haustüren Einladungen zum Bürgergespräch kleben – woraufhin nun ein Widerspenstiger durch die Gegend zieht und auf die Schreiben „Fernwärme ist Abzocke“ stempelt. Aber diese Fernwärme muss nunmal verkauft werden, schließlich hat die Stadt erst kürzlich für 150 Millionen Euro ein eigenes „wasserstofffähiges Heizkraftwerk“ gebaut. Es gibt von dort zwar noch keinen Wasserstoff, schon gar keinen „grünen“, aber hey, wir Deutschen sind unbestreitbar die Herrscher im Königreich des Träumens.

3. Ist Betteln ein Beruf:
Auf dem Samstagsweg zum Aldi geht hinter uns ein gepflegt gekleideter junger Mann, der ein Lied trällert. Er trägt eine leere Getränkekiste, was uns wundert, denn unser Markt nimmt weder Kisten noch klassische Pfandflaschen an. Als wir nach dem Einkauf den Discounter verlassen, sitzt der Mann vor dem Eingang auf der Kiste, seine Kleidung ist mit einer sauberen Decke verhüllt. Vor ihm steht ein Becher, mit dem er um Kleingeld bettelt.
Auf den Freisitzen herrscht dagegen tote Hose – der Zugang ist versperrt, die Bänke und Stühle sind weggeräumt oder in Planen verpackt. Sie sind nun im Winterschlaf, um im April, vielleicht auch schon Ende März, durch die Frühlingssonne geweckt zu werden.

4. Glück verkaufen:
Der Sonntag ist eisig kalt und regenschwer. Der Wind wirbelt die noch nicht festgetrampelten oder breitgefahren Blätter vor sich her. Die Stadtreinigung wartet, bis alles Laub von den Bäumen gesegelt ist, dann kommen sie mit ihren Bläsern und Sammelwagen. Bis dahin sind die Gehwege, Parkbuchten und Gullis verklebt.
Auf dem Feinkostgelände in der Südvorstadt riecht es weihnachtlich. Der alljährlich zur Adventszeit auftauchende Churrosverkäufer ist mit seinem Imbisswagen vorgefahren. Das süßlich duftende Gebäck ist gut fürs Gemüt – bereits der Geruch hebt meine Stimmung.

5. Alles endet:
Die Großbaustelle bei uns um die Ecke, auf der die Brückenauffahrt zur B2 ertüchtigt wurde, ist nun Geschichte. Der Blitzer, der ob des Stop-and-Go monatelang keine Aufnahmen tätigte, arbeitet wieder. Dafür ist jetzt ungefähr zwei Kilometer weiter die Agra-Brücke zur nächsten Staufalle geworden – statt zweispurig dürfen die Autos dort nur noch einspurig in jede Richtung fahren, seit Donnerstag ist sie zudem für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen gesperrt. Es handelt sich um denselben Bautyp wie bei der im September 2024 eingestürzten Carolabrücke in Dresden, weshalb man wohl kein Risiko eingehen will. Im sächsischen Verkehrsministerium verwendet man für die verbliebenen Abrissarbeiten in Dresden übrigens die ungewöhnliche Formulierung palliative Begleitung der Brücke – die nun, um weitere böse Überraschungen zu vermeiden, engmaschig überwacht wird.

6. Alles ruht:
Am Mittwoch ist Buß- und Bettag, der nur in Sachsen ein Feiertag ist. Für die Leute hier ist es der „Bus- und Betttag“ – „Bus“ für den Nahverkehr Richtung Sachsen-Anhalt, wo die Geschäfte geöffnet sind, und „Bett“, weil man mitten in der Woche ausschlafen kann.
In Ermangelung körperlicher Fitness entscheide ich mich für einen Tag ohne Sport und einen langen Spaziergang als Alternative. Mein Ziel: Ich will an drei Kirchen vorbeigehen (geschafft!) und mir das neu entstehende Wohn- und Geschäftsgelände hinter dem Hauptbahnhof ansehen. Letzteres besitzt bereits eine neue Schule und erste Geh- und Radwege, die Straßen sind zum Teil noch gesperrt. Durch das Gebiet fließt die Parthe, die aktuell in ein neues, steinernes und grünes Gewand gehüllt wird. In den ebenfalls angelegten Beeten verwelken die letzten Blumen, darunter die Schwarzäugige Susanne. Im Sommer könnte es hier einmal ganz angenehm werden, zumal der Verkehrslärm durch die massiven Häuserfronten auf der anderen Uferseite gedämmt wird.

7. Was blüht denn da?
Nach einer dreitägigen Pause steht am Donnerstag wieder ein Lauf an. Wegen der überschwemmten oder zumindest stark schlammigen Waldpfade weiche ich auf die befestigten Wege aus. Das macht die Strecke knapp einen halben Kilometer länger. Ich laufe langsamer als noch im Spätsommer, habe aber keine Probleme mit Kräften und Kondition.
Am Wegesrand erblicke ich eine Pflanze mit weißen sternförmigen Blüten. Ich bin überrascht: Ist es Mitte November nicht etwas spät, um sich bestäuben zu lassen? Sind in dieser Kälte überhaupt noch Insekten unterwegs? Offenbar ja, denn die Pflanze entpuppt sich nach einer Internetrecherche als Schwarzer Nachtschatten, der – obwohl warme Temperaturen liebend – bis in den November blühen kann. Spannend, wer neben dem Bärlauch noch so alles in unserem Auenwald ans Licht drängt.

Abends geht es für mich in die Turnhalle: In den Trainingseinheiten beobachte ich bei den Kids vierzig Minuten lang Chaos, Rumalbern, Lärm, Nichtzuhören und Unkonzentriertheit, und dann, als das Fußballspielen beginnt, vierzig Minuten pure Leidenschaft. Ein guter Grund, um sich noch einmal in die verregnete Kälte zu begeben.
