Christoph Sanders, Thalheim

Ein kühler und grauer Wochenbeginn mit leichter Aufhellung. Bei Sonnenaufgang nur noch 3 Grad bei schwacher Nordwestströmung. Nachdem ich fürs Mittag Bergkäse über Blumenkohl und Würstchen gerieben hatte, setze ich mich mit der Jüngsten nochmals an die Prozentrechnung. Aktive Meisen auf Strauchhöhe. Auf arte Roberto Rossellinis „Deutschland im Jahre Null“, gedreht 1945 im zerstörten Berlin – der allgegenwärtige Hunger, die Ausgebombten. Wichtiger Film. So etwas sollte man dauerhaft ans Brandenburger Tor strahlen.

Dienstagmorgen mit leichtem Frost und einer Radioperle politischer Ausdruckskunst: „… die vielstimmig angemahnte Zeitenwende …“ – keine Satire. Den öffentlich-rechtlichen Sendern fällt inzwischen täglich neu etwas Lobenswertes zur Bundeswehr ein. Nachdem der Reif getaut war, Montage eines speziellen Frontgepäckträgers ans bronzene Rad – sehr klein, sehr leicht, fast kunstvoll. Die Franzosen bevorzugen diese Art der Anordnung, da man sich so beim Fahren aus der Tasche bedienen oder auf eine Landkarte sehen kann, die obenauf liegt – Reisen in den Zeiten vor der Satellitennavigation. Ich habe nun mein Stück über Beigbeder beendet. Weitere Analyse von Nabokovs raffinierter Lolita-Dramaturgie, dabei lief Monteverdi. Die Familie wünscht drei Stielkoteletts – also schnell aufs Rad und ab ins sonnig Frische zum Metzger. Der Vorwinter ist jetzt endgültig da.

Alles bekommen. Zum Kotelett gab es gedünstete Champignons und Pastinaken mit Reis, einem Hauch Curry und Paprikasalat, zum Nachtisch eine Handvoll italienische Trauben. Aus Westerburg kaum Neues zu berichten. Aufgrund der H5N1-Stallpflicht steigen die Eierpreise – nun gibt es Zelte unter denen die Tiere „draußen“ sind. Der Spiegel brachte diesmal zwei Überraschungen: ein Gespräch mit einem Kernphysiker, der über KI-basierte Forschung redet (die lange vor ChatGPT stattfand) und eine Art Kollektivinterview, bei dem sich die damalige Journalistenriege sowie Tom Kummer um dessen gefälschte Interviews auslassen. Poschi und Uslar, die es bis heute „nicht fassen können“, dass das alles erfunden war … Sie hätten bei Nabokov lernen dürfen, dass jede, wirklich jede Geschichte eine Erfindung. Kummer hat sich geradezu künstlerisch genaue Dialoge ausgedacht – ich finde das nach wie vor großartig. Wer zum Teufel will denn wirklich wissen, was Brad Pitt denkt oder Pamela Anderson meint. Vielleicht diejenigen, für die Meghan Markle eine Prinzessin ist, statt eine Herzogin der Fikion. Kummer ist für mich die coolste Sau der Szene, in der es ja nun wirklich nicht an Hochstaplern, Lügnern, Plagiatoren oder Angebern mangelt. Am Nachmittag scheint die Sonne ins Zimmer – einer der Vorzüge des Novembers.

Die Eindrücke der Samstagstour wirken nach: die unglaublich weiten Horizonte, wenn man vom Sauerland herunterkommt – von 700 auf 500 auf 300 Meter, bis es ins Lahntal geht. Diese Staffelung zieht sich über 50 Kilometer. Man sieht ähnliche, aber unterschiedliche Welten. Solche Gebirgskämme waren vor der motorisiserten Ära ja auch Zivilsationsscheiden: Heiraten in das Nachbartal? Ins andere Fürstentum? In die andere Konfession? Das ging schonmal gar nicht. Zum Abend aus Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln eine Suppe gezaubert.

In der Nacht auf Mittwoch nachgeschlafen. Gegen 7 Uhr der erste Schnee, der nur kurz liegenblieb. Ein Stück weiter oben dürfte es anders aussehen – die Null-Grad-Grenze liegt bei 300 Höhenmetern. Nach dem Einölen des Fahrrads hinaus. Beobachtung beim Einkauf: Viele sind mit dem Hören, Sehen und Lesen zunehmend überfordert. Sie halten lieber eine Rabatt-App hin. Das Roggenbrot mit 7 Euro pro Kilo nochmals teurer. Juckt keinen – die fünf Wattebrötchen für 2,15 Euro aus dem Sonderangebot werden die Mägen schon füllen.

Ein Freund schickt einen sehr guten Auszug aus Andrei Platonows „Tschewengur“, geschrieben in den 1920ern: „Unter Tausenden war so ein Gesicht zu unterscheiden – ein offenes, von ständiger Anspannung verdüstertes und ein wenig misstrauisches Gesicht. Die Weißen hatten seinerzeit solche besonderen, selbstgemachten Menschen unfehlbar herausgefunden und mit derselben krankhaften Besessenheit vernichtet, mit der normale Kinder Krüppel und Tiere schlagen: erschrocken und mit gierigem Genuss. Das Atemgas bildete unter der Saaldecke bereits eine Art trüben örtlichen Himmel. Das matte elektrische Licht pulsierte leicht, wahrscheinlich gab es im Kraftwerk keinen heilen Treibriemen für den Dynamo, und der alte ausgebrannte Riemen schlug mit der Naht gegen die Scheibe und veränderte die Spannung im Dynamo. Die Hälfte der Anwesenden begriff das. Je weiter die Revolution vorausschrieb, umso mehr Widerstand leisteten ihr die erschöpften Maschinen und Erzeugnisse – sie hatten schon ihre sämtlichen Fristen abgearbeitet und hielten sich nur noch durch die anspornende Meisterschaft der Schlosser und Maschinisten.“ Die Treibriemen der Dynamos, Kinder, die Krüppel schlagen, der Dunst der Atemluft – alles sehr klare Details, die nur einem direkten Beobachter zugänglich sind. Der Blick in die Maschinenräume gesellschaftlicher Umbrüche ist zu allen Zeiten unappetitlich. Am Abend zwei Grad und kalter Regen.
Andrei Platonow„Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen“, ins Deutsche übertragen von Renate Reschke; Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
