Christoph Sanders, Thalheim

Um 20:25 Uhr war ich am Samstag wieder entspannt und zufrieden zu Hause – wir hatten drei Mittelgebirge durchfahren, zwei Mal Burg Staufenberg passiert. Die Ruine ist nachts beleuchtet – ein winziger orangener Punkt aus der Ferne. Die Form stimmte, das Wetter war leicht und mild, hohe Wolkendecke, kein Niederschlag – alles ganz anders als in den Katastrophenvorhersagen. Das größte Hindernis waren die Heimkehrer von der samstäglichen Vergnügungsreise am frühen Abend – auf einer fünf Meter breiten Landstraße macht das für alle Beteiligten keinen Spaß. Im Hochsauerlandkreis hat sich die alte Bundesrepublik in ihrer Reinform konserviert. Brilon ist das Sprengel von Friedrich Merz – Weltbild und Stadbild kommen zur Deckung. Beim Fleckenberger Bäcker lagen fünf Kastenbrote bereit – dieselben, die schon in meiner sauerländischen Vergangenheit auf ihre Abholer warteten, vermutlich von denselben fünf Familien vorbestellt, die sie seit hundert Jahren kauen. Hier weiß jeder, wo und was der Nachbar einkauft. Wenn man sich in diesem Landstrich „etwas leistet“, muss es unauffällig und gediegen sein, teuer geht in Ordnung, extravagant nicht. Perfekt funktionierende Kleinstädte mit klaren Strukturen, Normen, Sitten und Gebräuchen. Bereits in einem Düsseldorfer Pelzladen wäre man stark verunsichert, da Angebot und Ambiente mit der anerzogenen Bescheidenheit kollidieren würden. Den Brilonern ist genau bekannt, was Merz am Abend für Wurst gekauft hat – wehe, wenn nicht! Eine ordentliche Karriere in der CDU ist ein geeigneter Ausweg aus so einer Welt. Deutschland ist ein so vielfältiges und wunderliches Land – allein, wie man beim Durchfahren sofort mitbekommt, wann ein Gegend katholisch wird …

Die strengen Fachwerkhäuser des Sauerlandes gehen an Sieg und Eder in kunstvoll geschindelte, graue Häuser über – ein deutliches Anzeichen für die Schiefervorkommen des Rothaargebirges. Ein herbes, karges Land mit Talbahnen. Meine Freund und Mitfahrer war vom desolaten Zustand des oberen Lahntals sehr bedrückt – er kennt das alles noch aus besseren Zeiten. Orte wie Biedenkopf oder Bad Laasphe hatten vor fünfundzwanzig Jahren eine Fülle an kleinen Stahlverarbeitern. Diese sind inzwischen alle fort, die aufgegebenen Hallen werden kümmerlich „nachgenutzt“ – das riesige ehemalige Aldi-Zentrallager steht seit zehn Jahren zur Miete frei. Die letzte große Firma, die hier noch durchhält, ist die GEA Food Solutions Germany GmbH in Biedenkopf‑Wallau, die Verarbeitungsanlagen für Lebensmittel produziert. Die Deindustrialisierung Ostdeutschlands wird bis heute als historisch unausweichlicher Prozess bezeichnet und wahrgenommen. Dass sich die Folgen bis in die Gegenwart ziehen, wundert den Großteil der Medienlandschaft. Nun kommt „plötzlich“ der „eigene“ Strukturwandel – auch der wird ungläubig bestaunt. Wir fuhren durch ein schleichend sterbendes Land.

Die Fahrt ging auch durch die großen Jagdreviere des Westens. Rothaargebirge, Sauerland und Gladenbacher Bergland sind voller Wild. Gipfel des Sauerlands ist Winterberg, Heimat des Wintersports. Auf allen Höhenzügen Gestelle und Apparaturen. Touristen aus den Niederlanden, wie man an den Nummernschilder erkennen konnte. Abgeholzte Wälder, die als blanke Kuppen einen unwirklichen Rahmen bilden, daneben gesunde Tannen und Lerchen. Überall wunderbare Farben. Milchlaster mit gigantischen 20000-Liter-Edelstahlbehältern – unsere Bauern machen unverdrossen weiter.

Novembersonntag mit Kränzen – entgegen aller Schauerprognosen ein milder und bewölkter Tag. Die Luftmassengrenzen haben sich offenbar viel friedlicher vermischt, als es die Modellierer berechnet hatten. Am Nachmittag Dorndorf II mit einem unverdienten 1:2 gegen Anadolou Limburg – wenn man ein halbes Dutzend Großchancen nicht verwertet, bestrafen einen auch übergewichtige, lauffaule, dafür aber kombinationssichere Altherren aus Anatolien … Mit der Jüngsten mühsames Üben der Prozentrechnung. Die Übertragung von Bruch- in Dezimalzahlen und deren Äquivalenz ist offenbar verwirrend. Auch, dass die Multiplikation mit 0.25 dem Teilen durch 4 entspricht. Ich, als Nichtmathematiker, bin ja davon überzeugt, dass mathematisches Denken und das Erkennen von logischen Entsprechungen eine Sprache ist. Es gibt Menschen, die dieses Denken viel besser assimilieren als andere. Die das förmlich über die Wirklichkeit stülpen können, denen es hilft, Struktur zu gewinnen.

Nabokov ganz groß. Seine Feldforschungen zu Lolita beginnt er Mädchenschulen – für sein Vorsprechen erfindet er eine Tochter. Er studiert Statistiken, Untersuchungen zum Sozialverhalten und dem Slang heranreifender Mädchen. Sich seinem Thema vom Wissen, nicht von Vorurteilen oder Wünschen und Vorstellungen aus nähern.

