Christoph Sanders, Thalheim

Am letzten Donnerstag steht der Mond nach einer kristallklaren Nacht so hoch und hell, dass die Kirche einen riesigen Schatten wirft. Am Morgen sanfter Nebel. Die Luft einen Hauch über dem Gefrierpunkt. Das gewohnte Frühstücks- und Morgenballett. Am Ende sitzen um 7:05 Uhr vier Personen im Auto, von denen zwei ihre Räder mitgeschleppt und gefrühstückt haben. Die anderen beiden wollen später das Essen nachholen, trinken aber schon mal Tee. Der Appell „Frühstücke wie ein König“, dürfte mit der Realität unserer Arbeitswelten auf Kriegsfuß stehen. Gegen elf lichtet sich der Nebel. Ich zähle noch ein Dutzend Beeren an der Eberesche. Die Hagebutte hängt üppig befüllt, die meisten Äpfel liegen am zweiten Apfelbaum. Vor ein paar Tagen habe ich einen alten Fahrradrahmen geschenkt bekommen – jetzt setze ich die Teile für den Aufbau zusammen. Unterverchromt, saubere, solide Arbeit – so etwas rostet nur sehr langsam. Das Lackmuster gefällt mir: Perlmutt in Konfettifarben gesprenkelt – „Italian Disco“ werde ich ihn nennen. Die meisten meiner Bauteile kommen von Fahrradleichen. Es ist unfassbar, wieviele man allein von Berliner Laternenmasten befreien und mit ungefähr einhundert Euro für Jahrzehnte aufbereiten könnte … Unwissen, Desinteresse und die ständige Verfügbarkeit neuer Räder verhindern das – Zeichen einer Gesellschaft des Überflusses.

Am Nachmittag lösen sich ganz langsam die Nebel auf, nur in den Tälern über den Flüssen beiben sie zäh. Oben spielen die Mädchen mit ihrer Schleich-Pferde-Brigade. Weitere Basteleien, die tiefe Sonne scheint direkt zu mir ins Erdgeschoss. Beim Rinderbauern waren die Fleischprüfer. Zum Abend ein Endiviensalat mit Eiern, Paprika und Tomate. Die Kinder leisten mir Gesellschaft, mit der Dame des Hauses ist selten vor 20 Uhr zu rechnen. Kleine Wolken kündigen eine kalte Nacht an – ich bringe den Olivenbaum in den Keller. Der Ofen brennt. Im weißen Sessel mit Vladimir Nabokov Amerika entdecken – was entdecken wir eigentlich gerade?

Nebliger Freitagmorgen mit Debussy und der ersten Runde Kaffee. Alle Kinder sicher auf dem Weg in die Schule, die Frau stürmt hinterher – das tägliche Schauspiel. Nach einem beschissenen Abendgefühl scheint der Körper den Schlaf zur Heilung genutzt zu haben. Ich schiebe alles auf den Besuch einer sehr vollen Pizzeria nach hartem Training. Ich solle mich nicht so verausgaben, sagt meine junge Tochter. Ich sage: dieses Virus hat eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit. Meine immer festere Überzeugung: Es ist ein Gain-of-function-Experiment an irgendeinem Coronavirus, woran der gesamte Globus seit 2019 laboriert. Ich jedenfalls habe in meinen bisherigen sechs Lebensjahrzehnten nie so gehäuft solche merkwürdigen Karnkheitsverläufe gehabt. Heute aber wieder mit angenehm leichtem Tritt auf dem Rad. Bei 4 bis 5 Grad plus war die Talsicht gut, ab dreihundert Meter Höhe schwamm alles in einer Nebelsuppe. Der typische Freitagsverkehr: Das Heimkehrrennen der PKW, Lieferwagen und Laster geht nahtlos ins Shoppingrennen der Töchter und Mütter über, die ich bei H&M beobachte. Gegenüber bei Thalia ein Regalmeter Reclam und zwanzig Regalmeter Literatur. Sehr viele KI-generierte Cover, auch die Übertragung erfolgreicher Streamingserien in Buchform hat keinen Autorennamen mehr. Meine jüngste Tochter blättert fasziniert in einem gut bebilderten Buch über Spitzbunker und versteht überhaupt nicht, wie man dort vor Bomben sicher war. Auf die Meisengesellschaften folgen nun die Spatzen, die in der Eberesche nach Körnern suchen – die letzten Früchte sind hingegen uninteressant. Sie wagen sich auch in die Nähe des Hasenstalls, wo sie auf dem Boden Körnrereste aus der Nagepackung finden – beim geringsten Geräusch stieben sie davon.

Ein typisch grauer Novembersamstag. Die Elstern sehr aktiv, in der Schule Tag der offenen Tür. Bei sinkenden Kohortenzahlen muss man Neuschüler werben. Von den Bildungseinrichtungen des Bistum werden in der nächsten Zeit einige schließen. Erste Winterfahrt – es geht über Ausläufer des Vogelbergs ins Lahntal, von dort an etlichen Infrastrukturbaustellen vorbei nach Gießen. Der Flohmarkt ist ans andere Ende der Stadt neben die Asylantenunterkunft gezogen. Beim Plattenhändler die Stimmung so trüb wie das Wetter. Dem Ukainerdenkmal am Friedhof folgen die Kasernenkomplexe am Spilberg. Reihenweise Arbeitersiedlungen und Neo-Wohnkomplexe.

Vierspurige Ausfallstraßen, am Rande Gewerbeklötze, und als Krone auf der Höhe die Bunker der Leica AG. In Sichtbetongrau werden gescheiterte Speer-Entwürfe zur „Leica-Welt, dem Erlebnispark der kreativen Fotografie“gezeigt. Hinter den Fenstern Schwarzweiß-Bilder. Der Caféflachbau lockt in ein 50er-Jahre-Ambiente. Junge Menschen sehe ich kaum. Eine flächenversiegelte Retrotopie für meine Alterskohorte. Verteidigungsstrategie einer untergehenden Welt: verschlossen, erstarrt, von der eigenen Wichtigkeit kündend, die es längst nicht mehr gibt. Ein graues Mahnmal des Grauens.

Am Sonntag Erholung von den 140 graunebligen Kilometern am Vortag. Nur kurz den Berg hinauf, um das 1:5-Debakel gegen TUS Dehrn 1905 zu erleben. Die Zuschauer tragens mit Fassung, allein der Schiri bekommt sein Fett weg. Mein Sohn ab Halbzeit 2 rechter Verteidiger – eigentlich fehlerfrei. Feucht und mild, von 4 auf 8 Grad. Gegen 20 Uhr, höre ich, den Rufen nach zu urteilen, einen kleinen Kranichzug. Bin platt – für die letzten Schulaufgaben wirds reichen.

Montags Kleinkram: Kurzreisebericht fertigstellen, Wäsche, Sellerie schnitzeln, der Jüngsten bei den Deutschaufgaben helfen und mit dem Sohn die Haselnuss beschneiden. Das Holz ist dicht und zäh, der Strauch wächst ohne einen zentralen Stamm auf vier bis fünf Meter, was ihn schwer zugänglich macht. Das Eigengemisch für die Motorsäge war anfangs etwas „zu fett“ – das habe ich korrigiert. Ca. ein Dutzend armdicker Scheite für den Ofen ausgesägt – Haselholz brennt lange. Ging alles ruckzuck. Die restlichen Bündel Astwerk werden abgeholt. Der Wiesenhof-Mann ist heute außer der Reihe im Dorf. Sonst kommt er freitags und gönnt sich dann im Nachbarort ein Mittagessen. Auf dem Land ist alles übersichtlich. Wieder leichtes Bauchdrücken – Schonkost und Wayne Shorters „Speak no evil“.

Sankt Martini. Das Haus ist erfüllt von Jordi Savall, der auf seiner Viola da Gamba Diego Ortiz‘ „Recercadas del Tratado de glosas“ spielt. Die Aufnahme so gut gelungen, dass man sich in einer kleinen spanischen Kirche in Aragon wähnt, kurz bevor der erste Schnee fällt. Bin ausgeruht – Stille und gute Luft sorgten bei mir für tiefen Schlaf. Ein weiterer vor sich hin dämmernder Tag. Aufgelockerte Bewölkung, in Teilen etwas sonnig. Mein Sohn bucht gerade für sich und seine Freundin diverse Kurzreisen mit dem Flieger. Die sind so billig, dass da kein Zug, kein Auto mithält. Weihnachten ist ja schon ganz bald, sagt er , als er auf den Kalender blickt. Nachdem der Autoreigen auf dem Kindergartenparkplatz beendet ist, besäge ich noch einen dicken Ast. Anschließend mit einer Pai-Mu-Tan-Sencha Mischung die Possen der Welt verfolgen. Am Nachmittag geht der Ballettag ins Fußballtraining über – ich chauffiere und liefere ab. Zwei Zupacker der firma Bördner werfen die Gehölzbündel in einen blauen Müllwagen, der auf zwei Meter Breite das Holz komprimiert. Sie rumpeln ab und lassen ein paar gelbe Haselblätter hier. Die handliche Motorsäge namens „Oregon“ mit ihrem 39-cm-Schwert hat sich wirklich bewährt. Auch sie stammt vom Trödler. Noch sind die Verbrenner im Vorteil. Ein Tank von 300 ml reicht für eine halbe Stunde Dauerbetrieb – das Gemisch mixen wir selbst. Zweitakt-Motörchen sind drehfreudig und betriebssicher – gegenüber den Akkumaschinen sind das Vorteile. Und: Akkus wiegen – wenn man über Kopf arbeitet, ist das schon ein Faktor. Wenn alle Bäume kahl sind, werde ich noch ein paar dschungelartige Sträucher lichten, dann ist Winterruhe für die Maschine. Alle Kinder satt und zufrieden.

Der Mittwoch beginnt mit 1 Grad und Nebel. Ich kann die Zughupe deutlich hören – der Wind kommt also aus Ost. Nach kaltfeuchtem Start ist es, nachdem die Sonne durchbrach, recht mild geworden.
Beim Trödler stoße ich auf einen frischen Flöz Klassik-CDs und beachtliche Ausstellungskataloge. Ein Band zu Expressionismus, Dada, Grosz etc. heißt: „Der Traum von einer neuen Welt“. Guter Titel. Jetzt, wo sich unsere Welt wieder (und anders) erneuert, hört man nur wenig von Träumen, dafür umso mehr von Bedrohungen und Verlusten. Es sind eben nicht wir Menschen, die sich ändern wollen – das war 1910 noch anders. Der Finanzfacharbeitersohn ist im Hause. Sein Tag dauert vierzehn Stunden, seine Verfügbarkeit hat unbegrenzt zu sein – die Kapitalströme der Welt kennen keinerlei Pause. Im Februar weiß er, ob er weiter befördert wird. Kuriose Zeichen auf der Straße: Kabelnummern für die Internet-Glasfaser.
