Frank Schott, Leipzig
Was ist eigentlich Heimat? Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin? Die Stadt, in der ich seit mehr als doppelt so langer Zeit lebe und in der meine eigenen Kinder aufgewachsen sind? Fragen, die ich mir stelle, als ich durch das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig gehe.
Wobei die Frage ihren Ausgangpunkt vermutlich eher in Salman Rushdis Roman „Die satanischen Verse“ hat, in den ich gerade täglich für einige dutzend Seiten eintauche. An die Vielschichtigkeit des Buches konnte ich mich gar nicht mehr erinnern – vielleicht weil die Folgen nach dem Erscheinen für den Autor so dramatisch waren und alles andere in den Schatten gerückt haben. Beim erneuten Lesen wird mir bewusst, dass dies auch eine Geschichte der Heimatlosen ist: die nach England eingewanderten Inder, Pakistani und Bangladeshi, die englischer sein wollen als die Briten selbst und ihre alte Heimat verdrängen; die anderen Inder, Pakistani und Bangladeshi, die alles Britische ausschließen und genauso wie in ihren Herkunftsländern leben wollen; die Gläubigen, die ihre Heimat im Glauben verlieren, und die Ungläubigen, die diese Heimat im Glauben finden. Das Buch ist wie bittersüßes Konfekt – ich kann immer nur einige Seiten lesen und brauche dann eine Pause.

Ist Heimat dort, wo meine Sprache gesprochen, meine Traditionen gepflegt werden? An diesem Dienstag ist der 11.11. – Beginn der Karnevalssaison. Deshalb ist bei meinem Bäcker Pfannkuchentag – er verkauft allerlei verzierte und gefüllte Varianten des Gebäcks. Die Partys kommen erst noch, aber verglichen mit dem Aufwand in den Wochen rund um Halloween findet Karneval hier bei uns quasi nicht statt. Abgesehen von den Pfannkuchen. Wobei ich Leipzig, abseits vom Studentenfasching, auch nicht als Karnevalshochburg kenne.

Bald eröffnet unser Weihnachtsmarkt, der große Teile der Innenstadt umfassen wird. Oder, wie es die Stadtverwaltung in schönstem Beamtendeutsch (Kommafehler inklusive) verkündet hat: „Der Weihnachtsmarkt startet am 25. November 2025 fließend in den Tag: Ab 11 Uhr dürfen die Stände öffnen. Ab 14 Uhr haben die Stände zu öffnen. Gegen 17 Uhr gibt es eine feierliche Eröffnungszeremonie auf der Bühne am Markt bei welcher der Baum erleuchtet wird.“ Manchmal wünsche ich mir, dass auch Texter erleuchtet werden.

Damit alles rechtzeitig fertig ist, wird bereits fleißig gewerkelt. Der Weihnachtsbaum steht und ist mit Kugeln geschmückt. Die sechzig Jahre alte Fichte stammt aus Oberwiesenthal und ist 21 Meter hoch. Laut Medienberichten hätte sie ohnehin gefällt werden müssen.
Gabelstapler laden die Buden von den Tiefladern. Danach kommen die Waren und die Poller – und wenn alles fertig ist, für vier Wochen die Besucher. Die nehmen ihre schönen Erinnerungen an Glühwein und Plätzchen mit nach Hause, und all den Krimskrams, den man zum Fest verschenken will. Oder es kommt anders – deswegen die massiven Poller. Da Veranstalter die extrem hohen Kosten und Auflagen für Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr stemmen können, werden einige Weihnachtsmärkte in Deutschland ausfallen. Auf den verbleibenden wird es oft ziemlich still sein, weil die GEMA horrende Gebühren für das Abspielen von Weihnachtsliedern verlangt.

Im Stadtgeschichtlichen Museum erfreue ich mich an der Amtskette des Oberbürgermeisters. Auf der ist das Stadtwappentier noch in der alten Form zu sehen. Muss die Kette jetzt entsorgt werden oder reicht es, das Bild des Strichlöwen vom neuen Logo aufzukleben? Historische Dokumente und Exponate zeigen die Entwicklung des Wappens – keine Veränderung war so brutal wie die aktuelle.

Und dann wird mir bewusst, dass mir diese Löwenposse egal ist. Denn Leipzig ist zwar der Ort, an dem ich lebe, aber meine Heimat ist das weite, leere Mecklenburg – mit seinen knorrigen Menschen, den verschlafenen Kleinstädten und halb ausgestorbenen Dörfern, mit der rauen, sommerkalten Ostsee und den verträumten Seen.
