Christoph Sanders, Thalheim
Montagmorgen. Die Busse fuhren an diesem ersten Schultag nach den Ferien pünktlich. Die Kinder sind bereits an ihrer Lernstätte. Es ist noch nicht hell. Gegen 5 Uhr setzte sehr feiner Regen ein – gut, dass wir vorher das Laub vom Stein zusammengefegt und beseite geschafft haben. Machst Du das nicht, klebt das dann als schmierige Schicht richtig fest. Der Ahornbaum ist nun als Erster völlig entlaubt.

Nach telefonischer Beratung mit meinem Bruder, der Tierarzt ist, den siechen weißen Hasen eingepackt und zum lokalen Veterinärdoc gebracht. Körpertemperatur 34.1°C; der Tumor hatte schon einen Lungenflügel abgedrückt. Sieben Jahre war er ein treuer, kleiner Begleiter und Trostspender für unsere Jüngste. Nun ist er erlöst und tanzt mit seinen drei Vorgängern über dem Thalheimer Himmel. Beerdigung am Nachmittag. Brahms‘ „Sonate Op. 120“ mit Tabbea Zimmermann (Bratsche) und Kirill Gerstein (Klavier). Sundowner.

Zum Abendbrot Bio-Feldsalat mit echtem Feta (immer aufpassen – auch da wird getrickst). Bei Tisch mit der Familie über GoPros (das sind Action-Kameras) für Pottwale phantasiert. Damit in der Tiefsee deren Jagd auf Kalmare einfangen … Früh zu Bett: Der neue Infekt ist durch, jetzt brauche ich viel Schlaf. Bestes Zeichen: Wenn mir kühl ist, obwohl meine Jüngste ihre Hausaufgaben im T-Shirt macht.

Dienstag ein fast identischer Tag zu Montag. Mild tröpfelt es vor sich hin; der Kindergarten gegenüber muss nun morgens länger das Licht brennen lassen. Meine Kinder bekam ich nur mit gutem Zureden in die Spur – äußerst mürrisch nahm der Sohn eine Banane entgegen. Die schlechten Frühstücksgewohnheiten beginnen früh – die Frisur ist wichtiger. Ein Hase weniger im Stall. Unsere Kleine nimmt das in aller Ruhe auf – am Wochenende wird das Tierheim besucht. Die Pseudonachrichten um acht abgeschaltet – 90% im Konjunktiv. Nur dass der korrupte französische Ex-Präsident in Haft geht, ist wohl sicher. Die ersten Kraniche ziehen – das ist immer ein Zeitsprung.

Im letzten Podcast von Lanz und Precht interessante Ausführungen zur metphysischen Obdachlosigkeit des Westens. Sie beziehen sich dabei auf Emmanuel Todd und dessen 2024er Werk „La Défaite de l’Occident“ (auf Deutsch als „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“ im Westend Verlag ). Ich höre über mehrere Tage verteilt ungefähr fünf Stunden Interviews mit dem Autor. Der französische Historiker und Demograf diagnostiziert eine tiefgreifende Krise der westlichen Gesellschaft, insbesondere ihres über Jahrzehnte dominierenden individualkapitalistischen und liberalen Selbstverständnisses. Anhand von Bildungsabschlüssen und Geburtenraten zeigt Todd auf, wie die in den 1960er Jahren einsetzende Deindustrialisierung der USA (ein Prozess, der später unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammengefasst wurde) nicht nur zu einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen führte, sondern vor allem zur stetig schwindenden Fähigkeit, bestimmte wichtige Produkte eigenständig und in ausreichender Menge herzustellen – etwa Schlüsselkomponenten für Energieversorgung, Transport und Industrieanlagen, Mikroelektronik, pharmazeutische Produkte oder Rüstungsgüter. Ich denke dabei auch an unsere deutschen Politiker, die sich immer wieder mit den großen Mächten anlegen, dann aber verwundert feststellen müssen, wie abhängig man zum Beispiel mittlerweile von China ist. Gerade geht durch die Medien, dass es bei der Versorgung mit Antibiotika und Schmerzmitteln erneut zu Engpässen kommen wird. War das nicht genau die Schwachstelle, die man während der Corona-Pandemie EU-weit laut beklagte? Und? Wurde da inzwischen eine einzige Fabrik in der Altmark gestellt?

Für Todd ist die zunehmende soziale Vereinzelung Folge des Zerfalls traditioneller Strukturen. Er versteht die Individualisierung nicht als Fortschritt, sondern als Notreaktion auf die Überforderung durch Globalisierung, technologische Komplexität und das beschleunigte Lebenstempo. Früher fingen solche existenziellen Verunsicherungen in der Regel Familie, Nachbarn, Kollegen, Religionsgemeinschaften auf – heutzutage ist das Individuum oft komplett auf sich selbst zurückgeworfen. Das neoliberale Narrativ dazu lautet: „Für deine Ängste bist du selbst verantwortlich.“ Infolgedessen entwickelt der Einzelne Bewältigungsstrategien, mit denen er versucht, sich gegen die fundamentalen Ängste zu wappnen: die Angst vor Krankheit und Tod, vor Beziehungsunfähigkeit und Einsamkeit – vor der eigenen Bedeutungslosigkeit im großen Getriebe. Im Kapitalismus ist die am einfachsten verfügbare Form der Selbstaufwertung der Konsum. So findet der methaphysisch Obdachlose zu einer Art Ersatzreligion, die versucht, die spirituelle Leere mit materieller Befriedigung zu füllen. Das fügt sich gut in Hararis Analyse, der einen unersättlichen Bedarf an sinnstiftenden Erzählungen sieht. Was meine Familie bestätigen kann – wir wollen doch auch unseren toten Hasen wiedersehen!

Sehr milder Abend mit schönen Sonnenpartien. Wieder genesen – tolles Gefühl! Bis der Sohn nach dem Fußballtraining fertig rasiert war (seine Freundin kommt für drei Tage zu Besuch) und sich zu mir gesellte, stand es für PSG gegen Bayer schon 4:1 – Endstand 2:7.
