Helko Reschitzki, Moabit

In der Schlachtenseebucht findet sich nun regelmäßig ein Schwarm relativ junger Stockenten ein, manchmal kommt ein zweiter hinzu. Insgesamt konnte ich neunzehn Vögel zählen. Bei den Erpeln sind immer wieder Auf- und Abbewegungen von Kopf, Hals und Brust zu beobachten – meist dann, wenn zwei Tiere frontal nah aneinander schwimmen. Oft greift das dann synchron auf mehrere Männchen über. Das erinnert mich an Breakdance, wo beim Battle einer der Tänzer als Hommage den Move eines anderen aufgreift (Call and Response), oder ihm diesen klaut (Biting). Wie immer, wenn ich Genaueres über Vögel wissen möchte, schaue ich bei Konrad Lorenz nach, werde fündig – und freue mich darüber, dass sein Räbräb genau so wie der afroamerikanische Hiphop-Slang-Begriff klingt.

Das inzwischen vielleicht zwölfjährige Mädchen, mit dem ich seit zwei Jahren ab und an im selben Wagon der Bahn Richtung Potsdam sitze, besitzt nun ein Smartphone. Vorher waren sie und ich oft die Einzigen, die nicht auf ein Display schauten. Jetzt hat auch sie den Tunnelblick. Ihr Unterbewusstsein funktioniert aber noch tadellos: Als sich ein Mann in ihre Vierer-Sitzgruppe setzt, der sich kurz darauf als Drogensüchtiger herausstellt, verlässt sie umgehend den Platz – obwohl er zu diesem Zeitpunkt weder vor sich hin brabbelte noch seine Beine in der für einen Entzug typischen Weise zuckten. Neuropsychologen bezeichnen dies als Amygdala-Reaktion – eine reflexartige Alarmfunktion des Gehirns, die potenzielle Bedrohungen innerhalb von Millisekunden erkennt und eine Reaktion einleitet, noch ehe die Situation bewusst wahrgenommen oder bewertet wird. Ich frage mich, ob die ständige Ablenkung durch die Smartphones dieses uralte Alarmglöckchen mit der Zeit kollektiv verstummen lassen wird. (Da ich etwas weiter weg saß, reagierte ich so, wie ich es in mecklenburger Kneipen gelernt habe: Blickkontakt vermeiden und nicht sprechen, also mein Buch weiter lesen. Der Junkie stieg nächste Station aus – Drogensüchtige fahren eher nicht Bahn.)

Ich treffe in der Bucht den Mann mit dem gebrochenen Arm und dessen Frau wieder. Sie geht bis zu den Knien ins Wasser, er bis knapp unter die Schulterblätter, kreuzt die Arme über dem Kopf, verharrt im dieser Stellung ziemlich lange, wirkt in sich versunken. Als er herauskommt, frage ich, wie er das aushält. Er sagt, dass er sich vorstelle, dass nicht sein Körper die Kälte des Sees aufnimmt, sondern der See die Wärme seines Körpers. Wenn er lange genug stehenbliebe, würde die Wassertemperatur auf 37° steigen. Ich sage ihm, dass ich ab sofort immer zehn Minuten nach ihm hineingehen und dann um ihn herumschwimmen werde. Er erklärt sein Konzept: Er bleibt immer so lange im Wasser, wie die aktuelle Temperatur beträgt – ein Grad ist eine Minute, gerade war er also 14 Minuten drin. Ich frage, ob er irgendwann auf Sekunden umschaltet – nein, nach unten hat er keinerlei Probleme, wenn es warm ist, würde er die Zeit aber verdoppeln. Ein Vorgehen, das mir sofort einleuchtet. Von dort kommen wir auf die Kältekammern im ein paar Kilometer entfernten Immanuel Krankenhaus und auf Naturheilkunde zu sprechen. Das führt uns zur alternden Gesellschaft, wobei seine Frau anmerkt, dass alt sein nicht zwangsläufig krank sein bedeuten müsse. Als Beispiel nennt sie die am 1. Oktober verstorbene Jane Goodall. Ich erzähle von Richard Davids Prechts Gespräch mit der Primatenforscherin, in dem er sie fragte, ob Affen so etwas wie Religion und den Zustand des Verliebtseins kennen. Jane Goodalls Antwort ist sehr interessant („Lanz & Precht“ Podcast, Folge 213).

Am Montag ist mein Freund Christoph aus Thalheim zu Besuch. Er hat das Zeitfahren Hamburg – Berlin gut überstanden, ist noch ein paar Tage in Berlin, besucht seine Tochter, die gerade in den Norden Spandaus gezogen ist, sowie ein paar andere Leute. Wir schlendern durch Moabit. Als wir Hunger haben, gehen wir in das Bistro meines Biomarktes. Am Mittags-Buffet laufen wir einer Bekannten von mir in die Arme. Sie ist eine der angesehendsten Sinologen Deutschlands. Gebürtige Bulgarin, studiert in Prag, seit längerer Zeit in Berlin. Ist mehrere Wochen, manchmal auch Monate, mit ihrem Mann in China auf Forschungsreise. Wir setzen uns, eine gemeinsame Freundin gesellt sich dazu. Die kommt wiederum aus Albanien. Christoph ist Halbfranzose, ich bin Viertelpole. Ich esse Szegediner Gulasch, der aus der Stadt kommt, in der Christophs Sohn eine Freundin hat. Europa ist klein. Wir reden über Religionen – Taoismus, Buddhismus, all die orthodoxen Verzwackheiten auf unserem Kontinent. Dann über das chinesische Social Credit System, an das sich dort wohl die meisten gewöhnt haben. Die Sinologin ist Mittelalterspezialistin und, genau wie ich, sehr an Medizinhistorie interessiert. Wir geben uns gegenseitig Buchtipps. Zwei Tage später setzen wir das Gespräch zu dritt fort – dann ohne Christoph, der auf dem Weg nach hause ist. Die Chinakennerin hat Kombucha (fermentierter Grüntee) mit und spendiert ne Runde – der Themenkomplex Bakterien, Mikrobiom und Immmunsystem ist auch eine gemeinsame Leidenschaft von uns. So geht einem der Gesprächsstoff nie aus, fügt sich eins zum anderen.

Hey, you, the Duck Steady Crew
Show what you do, make a break, make a move
Hey, you, the Duck Steady Crew
D-boys, breakers, electric boogaloo
