Christoph Sanders, Thalheim

Der Freitag grau. Da morgen von Nordwest her Schauer die Gegend verwässern sollen, eine Ausfahrt durchs Gladenbacher Bergland. In einer Woche ist das Zeitfahren Hamburg – Berlin – die heutigen neun Stunden werden der Test für Lunge und Muskeln. Covid hatte mich gerade satte drei Wochen geplättet, es hängen immer noch kleine Krankheitsreste in den Bronchien. Nach dem Radüberschlag Mitte August konnte ich meist nur kürzere Strecken fahren, wodurch sich die Stützmuskulatur im Nacken abgebaut hat. Die Muskeln müssen sich nun wieder daran gewöhnen, längere Zeit im Sattel zu sitzen. Dehnübungen während des Rollens in den Abfahrten helfen, das in den Griff zu bekommen. Ich fahre durch Orte, an denen keinerlei Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit erkennbar sind.

Hinter den sieben Hügeln wirds menschenleer – Dörfer im Stillstand, die Häuserreihen blicken stumm. Ein einsamer Bauer pflügt ein. Es ist ähnlich wie vor zwanzig Jahren auf dem Weg nach Zittau: Wo nichts zu holen ist, werden nicht einmal mehr Werbeplakate geklebt. Ich streife einen frisch abgebrannten Pferdehof, dessen Überreste noch rauchen. Die gesamte Anlage ist ziemlich heruntergekommen – vermutlich läuft das Geschäft nicht mehr so gut. Auf der Big Sky Ranch einen Kilometer weiter ist hingegen immer Betrieb – dort findet sich eine Pension für abgehalfterte Pferde mit Gastboxen, Wanderreitstation, biozertiziertem Ferienbetrieb mit Unterkünften.

Am Nationalfeiertag sind auch viele Tankstellen geschlossen – ich versuche es in einem der Dörfer mit einem Döner. Die Qualität ist wirklich gut, der kleine Familienbetrieb sympathisch. Essentiell für meine Energiezufuhr: die scharfe Soße – mir wird schlagartig warm, was bei dem kalten Ostwind wichtig ist. Auf einem elfprozentigen Anstieg hinter der Büchertelefonzelle in Schönbach schreckt mein Fluchen einen kirgisischen LKW-Fahrer hoch, der neben der Straße seinen Schlafplatz gefunden hatte. Oben wartet die B 255 auf ihn. Was ich bis an die Ränder des Rothaargebirges sehe, ist die lokale Abhängigkeit von den letzten funktionierenden Unternehmen, dem Mittelstand vor Ort. Da gibt es noch diesen Typus Chef, der alle hinter sich versammelt, der über eine loyale Belegschaft die soziale Bindung bewirkt. Die Entfernungen zu den Unistädten sind zwar nicht groß, das ist aber, zwei Hügel weiter, eine völlig andere Welt.

Am Samstag um 4h30 mit dem Sohn zur Bahn. Er besucht seine Freundin, die in Ungarn Medizin studiert. Es regnet leicht, es regnet sanft. Ich erhole mich bei der Beschäftigung mit Motorenölen.

Am Sonntag durchwachsenes Wetter mit heftigen Wechseln von Sonne und Wolken – ein Herbst, wie man ihn aus Büchern kennt. Weitere Haselnüsse auflesen, Familiensachen machen. Dabei das auffallend blöde Drohnenwald-Agenda-Setting ignorieren – schon die Suggestiv-Schlagzeilen entbehren jeder sachlichen Grundlage. Zwischen Schauern eine flüssig pedalierte, wohltuende Bahndamm-Runde mit Dehnungsübungen. Kaum hatte ich einen Cox-Apfel vom Straßenrand geklaubt, erwischt mich ein viertelstündiger Schauer, den ich in der Deckung eines modrigen Holzstapels aussitze. Zu hause Tiefenentspannung mit Poulenc, Françaix und Milhaud.

Ein sehr erfrischendes Gespräch mit dem Teenie über Le mans. Die Klassenkameraden sind ihr gegenüber aufgeschlossen. Die Disziplin in den großen Klassen ist sehr gut. Ab und an nehmen sie an den Politprotesten teil, bauen aus Mülltonnen Barrikaden. Sie freut sich über den Alltagsbezug der Fächer und ist ausgesprochen zufrieden. Wir sind es auch – man weiß ja nie, wie so ein Schüleraustausch ausgeht. Der Sohn, der gerade in Szeged von seiner Freundin bekocht wird, ist ebenfalls glücklich – wie sollte es auch anders sein.

Über mehrere Tage dem ganz ausgezeichneten Götz Aly bei „Jung & naiv“ zugehört – habe mir sogar einige Stellen notiert. Tilo Jung gerät wiederholt ins Schleudern, woraufhin der Historiker ihn daran erinnert, dass Begriffe, sobald sie zu Kampfbegriffen werden, für eine sachliche Analyse ungeeignet sind. Du merkst beim Gastgeber, wie sehr es ihm um die Wirkung der Schlagworte geht – er denkt immer die Klicks und vor allem die „Missverständlichkeit“ mit. Einerseits ist Jung clever und professionell, andererseits zeigt sich an ihm exakt die Schwäche seines Mediums: Das Generieren von Reichweite durch Vereinfachung, Triggerworte, Erregung. Sehr gut Alys Ausführungen darüber, wie die Nationalsozialisten geschickt den Dritten Stand – die Arbeiter, Bauern, Handwerker, das städtische Bürgertum, also die Mehrheit – für sich gewinnen. Die junge Riege der NS-Politiker wusste aus eigener Erfahrung, was ein Hungerlohn bedeutet, was ein Gerichtsvollzieher ist. Das ist präzise beschrieben – auch, dass im heutigen Deutschland die Hälfte der Mittelschicht gerade vor Angst wie gelähmt ist. Genau deshalb setzt Aly auf deren Konsolidierung und auf ihre Rückkehr zur ideengebenden Rolle – die Erstarrung und Spaltung unserer Gesellschaft bergen ein gewaltiges Zerstörungspotential. Wichtig, wie kühl Aly auf das „die AfD ist gesichert rechtextrem“-Etikettieren reagiert – so einen Stempel aufzudrücken erspart „den Guten“ die Auseinandersetzung mit „dem Bösen“. An einer Stelle Bezüge zum deutschen Teil meiner Familie und dem Tod meines Großvaters. Das Gespräch äußerst lehrreich – zentrale Erkenntnis: Macht lotet immer aus, wie weit sie gehen kann.

