Helko Reschitzki, Moabit

Dieser Tage ein sicherer Lacher am Schlachtensee: Bei 4 bis 5 Grad Lufttemperatur nackig an dick Eingemummelten vorbeiflitzen und dabei rufen: Schnell ins warme Wasser! Wie sagte der alte Sachse daraufhin zu seiner Frau: No, er hat ja recht. Um nicht auszukühlen, haben die Beiden ihr Pensum radikal gekürzt, schwimmen aber immer noch über 20 Minuten. Mir reichen wesentlich weniger als Energieaufladung für den Tag – rein, Gesicht nass machen, in die Knie, dann der Atemwolke hinterher. Der Sachse, als er wieder an Land kommt, mit dem gewohnt präzisen und knapp gehaltenen Wasservogel- und Fischsichtungsbericht – seine Art des Rapports scheint mir die geeignetste Weise zu sein, über Tiere zu sprechen.

Im Laufe der Woche in unterschiedlichen Konstellationen mal wieder alle in der Bucht: Schwäne, Blässhühner, Haubentaucher, Graureiher, Stockenten. Am Montag auf dem Schildkrötenbaum neun Kormorane – Rekord! Auf dem Rückweg nur noch einer, der sich dunkel vom nun wie eine explodierte Diskokugelfabrik glitzernden See absetzt. Cool.

Am Mittwoch schwimme ich durch dichten Nebel, darin der orange-rote Schein der aufgehenden Sonne, die mit ihrer Wärme, schon so früh, kräftig herniederdringt. Die Rehwiese mit Gebirgsanmutungen.



Bei zwei meiner gelegentlichen Pinkelpausen hinter dem S-Bahnhof Westkreuz sehe ich, dass der Funkturm pink bzw. blau angestrahlt wird. Vielleicht werden dort alte Geschlechterklischees reproduziert – ich bin schon sehr auf die Farbe für Hermaphroditen gespannt.

Aufgrund der aktuellen Diskussionen über die mögliche Abschaffung des Pflegegrads 1 ist meine Mutter sehr erleichtert, dass sie kürzlich Stufe 2 erhalten hat. Die möglichen Folgen einer Streichung wären gravierend, insbesondere für Demenzkranke im Frühstadium und deren Familien. Zu ihr selbst kommt neuerdings eine Bulgarin, die sie gern als regelmäßige Pflegerin behalten würde, was sie auch deren Arbeitgeber mitgeteilt hat. Dieser sieht es allerdings nicht gern, wenn das Verhältnis zwischen Personal und Klienten zu eng oder zu persönlich wird. Dieses neoliberale „Problem“ wird sich durch die immer öfter eingesetzten Care-Roboter wohl bald erledigt haben. Die andere Lieblingspflegerin meiner Mutter kommt aus Polen – ohne all die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Ostblock wäre in dem Bereich die Not noch viel größer. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht gegen Covid hat viele aus dem eh schon unterbesetzten Gesundheitsbereich vergrault – „fast jede von uns, die nicht familiär gebunden war, ist weggegangen“, wie mir seinerzeit die Pflegerin meines Vaters berichtete – Länder wie die Schweiz haben 2021 und 2022 regelrechte Abwerbungskampagnen betrieben. Auch das Maßnahmenschäden, über die keiner der Verantwortlichen spricht.

Am Donnerstag Fahrt mit der ODEG nach Mecklenburg. Der Zug ist überfüllt, ich erwische einen Sitzplatz – diesmal sind auch die Toiletten geöffnet. Zwischen Bad Kleinen und Schwerin ein nach fünf Jahren Gefängnis frisch entlassener junger Naziskin, der die erwartbaren Sprüche absondert, und von einem Betrunkenen Tipps bekommt, wie er bei den verpflichtenden Alkohol- und Drogentests tricksen könne. Auf dem Dorf, das ich besuche, keine Neunziger-Jahre-Flashbacks – morgens um sieben kräht der erste Hahn, ein zweiter fällt ein. Irgendwo brummt ein Generator – die Kraniche sind lauter. Bei Sonnenaufgang 2,5 Grad – unten glitzert der Rauhreif, oben da leuchten wir. Am Tag darauf in einem anderen Dorf Abbau meiner Ausstellung „Müde Tiere“ – dann munter zurück nach Berlin.

Zeige der alten mecklenburger Freundin, die mich mitsamt der Bilder nach Moabit bringt, den ihr unbekannten Schlachtensee. Schon die Rehwiese gefällt ihr. Ist ja ooch wie aufem Dorf dort. In meiner Bucht ein Sondengänger, der systematisch das flache Wasser abgeht. Er erzählt uns, dass dieser Sommer wegen der vielen Regentage und somit ausbleibenden Badegäste für ihn kaum ergiebig war. Hinzu komme, dass aufgrund der zunehmenden Armut immer mehr auf Münzen- und Schmucksuche gingen. Das Flaschensammeln habe auch zugenommen, die Ersten drehen bereits im Morgengrauen ihre Runde. Nachdem wir mit der S-Bahn zurückgefahren sind, sagt die Freundin, die Berlin kaum kennt und immer mehr als heilfroh ist, wieder auf ihrem Dörp zu sein, dass ihr aufgefallen sei, wie offen und angenehm freundlich die Menschen hier schauen würden – der Mecklenburger an sich sei ja nicht so. Dat ward wohl so stimmen.

Samstagmorgen aus dem Zugfenster ein Sonnenaufgang, bei dem man denken könnte, dass der Grunewald in Flammen steht. Auf der Rehwiese drei Füchse. Menschenleere Bucht – auf dem Rückweg kommen mir gleich vier Mitschwimmer entgegen. Ich werde gelobt, dass ich die Runde noch vor dem dräuenden Regen beenden konnte. Dieser erwischt mich im Vorderhof unseres Hauses – schnell rein.

Absolut fesselnder Soundtrack beim Kochen und Putzen in dieser Woche: Tilo Jung (und später Hans Jessen) im Gespräch mit dem Historiker Götz Aly. Eine knapp fünfstündige Geschichtslektion über die Nazizeit. Gastgeber Jung manchmal arg überfordert und patzig in seinem ideologischen Aufbrausen. Aly lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, antwortet ruhig aus der nüchternen Perspektive des Faktensammlers. Er geht von seiner eigenen Familie aus, verknüpft das mit dem in akribischer Archiv-Arbeit Gefundenen. Für mich viel Neues dabei: die rechtliche Seite der Enteignungen, der Aspekt des Tempo-Machens (anhand von Goebbels-Zitaten erklärt): jeden Tag neue Aufreger lancieren, um das Volk nicht zur Besinnung kommen zu lassen – der permanente Ausnahmezustand als Machtinstrument. (Carl Schmitts Satz „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ wird auch besprochen.) Eine absolut lohnende „Jung & Naiv“-Folge. (Einzig beim Thema Reparationsleistungen müsste Aly nachbesserrn.) Das Graffiti Birken- Ecke Stromstraße ist nun fast zugebaut. Irgendwann wird es keinen mehr geben, der weiß, dass es sich dort, Hauswand an Hauswand befindet. Ein versteckter Schatz.

