Helko Reschitzki, Moabit

In der Mittwochmorgendämmerung zeigt sich sehr deutlich, was das Tageslicht meist verbirgt: Ein paar hundert Meter die Stromstraße hoch, stößt das Heizkraftwerk Moabit eine Menge Schadstoffe in die Luft. Der Betreiber, die landeseigene BEW Berliner Energie & Wärme GmbH, hat angekündigt, dass dort ab kommendem Jahr die zur Zeit noch dominierende Verfeuerung von Steinkohle enden und durch gas- und biomassebetriebene Heißwassererzeuger ersetzt werden soll. Das wird die Emissionen aber lediglich verlagern. Wenn man sich mit dem Thema Energieerzeugung beschäftigt, stellt man schnell fest, dass es keine Umwandlungsmethode gibt, die nicht ihre Nachteile hat: fossile Brennstoffe belasten die Umwelt und führen zum Raubbau an natürlichen Ressourcen, Kernenergie wirft Fragen zur Reaktorsicherheit und Atommüllentsorgung auf, erneuerbare Energien sind wetterabhängig und können nur schlecht gespeichert werden, Biomasse steht wegen des hohen Rohstoffverbrauchs und der Abgase in der Kritik. Inwieweit Wellen- und Gezeitenkraftwerke oder Windenergieanlagen Ökosysteme beeinträchtigen, ist bislang nur unzureichend erforscht – diese mangelhafte wissenschaftliche Grundlage bei gleichzeitiger schneller Ausweitung der Technologien ist fahrlässig und birgt erhebliche Risiken für die Lebensräume von Mensch, Flora, Fauna, Gewässern und Böden, von Mikrobiomen mal ganz zu schweigen. Es sind fragile Systeme, deren Teil wir sind.

Die Ringbahn ist wie immer wochentags gegen sechs zu vielleicht einem Drittel gefüllt – der zweite Schwung der Schattenkolonne auf dem Weg zur Arbeit. Um die Zeit ist es still im Zug, falls mal jemand redet, ist es kein Deutsch, das man hört. Am Westkreuz Umstieg in die S7 – dort dasselbe Bild, nur mit noch weniger Menschen. In einer Stunde wird sich das ändern, auch die Nationalitäten – dann sind die Natives unterwegs. An der Wildpinkelstelle huscht eine Ratte vorbei.

Reißverschlüsse sind die Sollbruchstellen von Jacken. Wie gut, dass ich nach dem Runterziehmalheur noch eine zweite dicke habe – die Morgentemperaturen sind in dieser Woche durchgängig einstellig. Mir fällt auf, dass der Steinecke-Bäcker im Bahnhof Nikolassee wie Ernst Barlach aussieht. Über der morgentauglitzernden Rehwiese liegt ganz feiner Nebel. Auf dem nahen Schlachtensee ebenso.

Die aufgehende Sonne zieht einen orange-roten Streifen durch die Nebelfelder. Wo sich diese an den Schilfgürteln verdichten, sehen sie aus wie verwehter Schnee. Die Eiszeithänge leuchten, als wären sie mit flüssiger Lava übergossen. Verlassen liegt die Bucht da.

Mittags Treff mit einer Freundin im Bistro meines kleinen Biomarktes. Sie ist gebürtige Albanerin, wuchs in bitterster Armut auf. Vor den Gewaltexzessen in den Revolutionswirren Anfang der Neunziger floh ihre Familie nach Polen. Sie brachte sich selbst die Landessprache bei, organisierte ihren Schulbesuch und alles Behördliche. Als sich die Lage in der Heimat beruhigt hatte, ging die Familie nach Tirana zurück – ihr Bruder und sie blieben. Da war sie vierzehn und träumte schon auf polnisch. MTV-Moderatoren waren ihre Englisch-Lehrer. Sie machte hervorragende Abschlüsse, studierte in Warschau und Deutschland, zog nach Berlin. Dort lernten wir uns kennen. Sie ist eine international angesehene Künstlerin und hat sich im Lauf der Jahre sieben oder acht weitere Sprachen beigebracht. Denkt global. Wäre sie ein Baum, hätte sie ihre Wurzeln im Osten und ihre Krone im Westen. Es ist immer spannend, sich mit ihr zu unterhalten – sie ist eher an Außenpolitik interessiert, ich an kleinteiliger Soziologie, aber das eine hat ja mit dem anderen zu tun. Vieles von dem, was für mich ein wichtiges Thema ist, bekommt sie überhaupt nicht mit – und umgekehrt. Manchmal sind wir diametral anderer Meinung, dann wird gestritten. Finde mal heutzutage jemanden, mit dem Du das kannst – die meisten wollen nur zanken. Unsere Informationsquellen haben kaum eine Schnittmenge, auch da ist der Abgleich spannend. Worin wir uns hingegen ziemlich oft einig sind, ist die Einschätzung von Filmen, Büchern, Ausstellungen, neuen PC- und Smartphone-Technologien. Die gemeinsame Zeit fliegt nur so dahin, es gibt viel zu lachen. Bei der Verabschiedung erzählt sie, dass sie noch zum Baumarkt müsse, um eine Toilettenmuschel zu kaufen. Da ich den Begriff nicht kenne, frage ich nach, und lerne so das polnische Wort für Kloschüssel kennen: Muszla toaletowa. Das kann ich mir merken.

In der Ärztezeitung ein Artikel, der beschreibt, dass junge Ärztinnen auf Klinik-Feiern gezielt Alkohol trinken, um so ihren Vorgesetzten zu signalisieren, dass sie nicht schwanger sind, da sie andernfalls berufliche Benachteiligungen befürchten. Das ist ganz schön krank.

Am Samstag sitze ich nach dem Baden mit dampfenden Tee auf der Buchtbank und versuche, ein paar tröstende Zeilen für die Frau und die Kinder eines gerade verstorbenen guten Freundes meiner Eltern aufs Papier zu bringen, auch mein Bruder und ich mochten ihn sehr. Zuletzt traf ich ihn 2024 als er sich von meinem sterbenden Vater verabschiedete. Dann wurde er selbst ganz schnell krank und zum Pflegefall. Dass ihm weiteres, längeres Leid erspart blieb und es ihm vergönnt war, unter dem eigenen Dach zu sterben, muss man als Gnade ansehen. Trotzdem reichen meine Worte kaum aus – wo Traurigkeit die Herzen flutet, müsste die Musik übernehmen. Um 7:30 Uhr erklingt aus weiter Entfernung leises Geläut, um acht vom anderen Ufer die Vaterunser-Glocke der Johanneskirche. Aus dem Schilf lugt ein Blässhuhn, drei schwarze Enten fliegen vorbei.

