Helko Reschitzki, Moabit

In meiner kleinen Schlachtenseebucht in den letzten Tagen eindeutig Hauptthema: Der Rotfederschwarm, der dort neuerdings unterwegs ist. Wenn man langsam schreitet, kann man mitten hindurch gehen. Faszinierend. Am Samstag Wiederbegegnung mit der aus der DDR geflohenen Pastorentochter, die dann Literaturwissenschaftlerin wurde. Sie erzählt, dass sie nach unserem Austausch vor gut einem Monat sofort Matthias Wegehaupts „Die Insel“ gekauft hätte. Da freut sich der gelernte Buchverkäufer in mir. Kaum war meine nette Gesprächspartnerin weg, pflügt schweren Schrittes ein Mann aus dem Wasser: Taucherbrille, Flossen, Slawe. Ich frage, ob er – „neben dem hier vorne“ – draußen einen weiteren Schwarm gesehen hätte. Antwort: „Nicht verstehe. Ukraine.“ Er macht das gebräuchliche Zeichen zum Fischgrößezeigen, sagt: „Groß.“ Nachdem er sich abgetrocknet hat, zeigt auf er mir dem Smartphone fantastische, gestochen scharfe Aufnahmen von mehreren riesigen Fischen, die durch das Schilf schlängeln. Er deutet auf die Rohre am Rand der Bucht: „Da Fisch.“ Ich: „Hast du das gerade eben hier gefilmt?“ Nicken. Ich zeige auf sein Handy: „Aber nicht damit?“ Er setzt sich pantomimisch die Taucherbrille auf, pocht drauf. Ich: „Kamera in der Taucherbrille?“ Erneutes Nicken. Ich schüttel den Kopf und hebe den Daumen: „Verrückt! Echt tolle Qualität!“ Das freut ihn. Dann tut er so, als ob er ein Gewehr anlegen und abdrücken würde: „Ukraine. Fisch. Bumm!“ Lieber nachfragen: „Ihr schießt in der Ukraine auf Fische? Angelt ihr nicht?“ Kopfschütteln: „Bumm!“ Ich mache die aus alten Filmen bekannte Sprengzünderrunterdrückbewegung: „Benutzt ihr auch TNT?“ Er überlegt. Eine Erkenntnis huscht übers Gesicht, er überlegt weiter. Jetzt hat ers: „Nix Gewehr! Harpun!“ Wir machen beide Harpunenabschussbewegungen und das Geräusch. Er kreuzt die Unterarme – könnte ein Verbotsschild sein oder Handschellen. „Harpun in Deutschland Verbot. Policia!“ – „Stimmt.“ Er zeigt in die Ferne: „Italia Harpun okay.“ Zeigt auf sich: „Go to Italia.“ Wir lachen. Ich zeige und sage: „Lieber mit ner Angel.“ Er nickt, zieht fröhlich die Schultern hoch. Zum Abschied nettes Winken. Dialog des Monats.

Am Sonntag mit einer Mitschwimmerin meditative Betrachtung von springenden Rotfedern. Dazu ein Angler in Vollmontur. Grüßt nicht, geht ins Wasser, wirft die Angel aus, kommt raus und verschwindet. Macht seiner Schweigerzunft alle Ehre. 27 Grad Lufttemperatur – vielleicht das letzte sommerliche Wochenende 2025. Am Montag immerhin noch 17 Grad. Trotzdem schon einer mit Pudelmütze (!?) in der Bahn. Als ich am Dienstag um sechs sehe, dass es 6 Grad sind, kapiere ich, dass der Typ einfach nur einen dreiviertel Tag zu früh dran war. Ich hole die Winterklamotten vom Schrank und setze nun selbst eine Wollmütze auf (ohne Bommel). Gehe erstmalig einen mir unbekannten Weg zum See. Den hatte eine nette Baderin erwähnt, mit der neulich äußerst angenehm plaudernd von der S-Bahn zum Wasser ging. Unter einer Brücke das Graffiti, das ab Frühjahr 2020 überall im Lande auftauchte. Orwells Buch ist ja nie der schlechteste Lektüretipp. Nicht nur „1984“, auch die Werke Hannah Arendts lagen 2020-22 plötzlich und unerwartet in manch einem Buchladenfenster. Sie hat uns immer noch eine Menge zu sagen (bitte das Gespräch mit Gaus anschauen). Und anschließend könnte man dann ein wenig durch die geleakten RKI-Protokolle scrollen oder die Berichte von den landesparlamentarischen Untersuchungsausschüssen in Sachen Coronamaßnahmen lesen. Am Wegesrand Wilder Wein. Die Farben!

Als ich an der Bucht bin, ist das Thermometer auf 9 Grad gestiegen. Prächtigster Sonnenschein. Ein älterer Herr gesellt sich zu mir. Wir sind sofort im Gespräch. Er erzählt, wie es hier am See früher war. Er war damals ein sehr guter Läufer – heute geht er ganz langsam mit Stöckern. „Man darf nicht festsitzen zuhause, muss raus, sich bewegen, mit anderen ins Gespräch kommen. So wie wir gerade.“ Ich zeige ihm den Schwarm. Rotfedern kennt er nicht – „Biologie hat mich nie interessiert.“ Hat im neulich Radio gehört, dass es 12.000 Gräserarten gibt – fühlte sich bestätigt: „Wer soll da den Überblick behalten?“ Liest viel, vor allem Geschichtliches, Prosa und Lyrik. Hat für Freunde selbst ein Gedichtbändchen herausgebracht – über den Schlachtensee! Fragt, ob ich die schöne, ganz kleine Stelle neben dem Stehpaddelverleih kenne, ein Stückchen von der Fischerhütte entfernt. Kenn ich. Er zitiert aus dem Kopf: Hier ist mein schönster Platz am See / Ohne Service und Kaffee. Großartig! Er macht sich auf den Weg und kommt, keine zehn Meter weiter, gleich mit den nächsten ins Klönen. Als ich gehe, sehe ich endlich mal wieder Stockenten, gleich zehn Stück am nordwestlichen Zipfel. Dann noch einen Kormoran beim Losfliegen. Was mich schwer beeindruckt.

Dieser Tage hat mich eine kleine ZDF-Meldung sehr beschäftigt. In einer Umfrage zum Einkaufsverhalten der Deutschen angesichts der Inflation kam heraus: „57 Prozent der Befragten gaben an, ihre Einkaufsgewohnheiten wegen der hohen Preise verändert zu haben. Fast drei Viertel derjenigen, die anders einkaufen, achten stärker auf Sonderangebote als zuvor, ein gutes Drittel kauft seltener oder weniger ein. 84 Prozent achten stärker darauf, weniger Lebensmittel wegzuwerfen oder versuchen, bewusster einzukaufen und Reste kreativ zu verwerten. Zudem isst etwa die Hälfte derjenigen häufiger abgelaufene Lebensmittel, wenn sie noch gut aussehen.“ (Yougov-Umfrage für die DPA, Anfang September 2025) Liest sich nicht so, ist aber ja eigentlich eine riesige Erfolgsmeldung, wenn ich so an die Inflationen meiner Großeltern oder an aktuelle anderswo denke.


