Christoph Sanders, Thalheim
In der Nacht auf Freitag fast neun Stunden geschlafen. Bin immer noch nicht ganz genesen. Der Infekt verschwindet über den Darm – ein zähes Stück. Strahlendes Wetter. Schwallweise Wärme, dahinter lauert der Herbst. Die Maisbauern sind heute nicht auf dem Feld – vielleicht warten sie einen Tag ab oder sie arbeiten akkordweise. Weiter mit der Fahrradschlachtung und den Plänen für den Umbau des Ersatzmulis. Der Hamburger Flughafen ist von einem Kerosin-Lieferengpass betroffen. Die Raffinerie-Leute wollen aber nicht sagen, wann und wie die Knappheit in ihren Lagern zustande kam, von wem man die Rohstoffe bezieht. Ich hätte gern Informationen. Mal sehen, wie sich das Ganze in den kommenden Tagen auflösen wird – im Zweifelsfall gilt: Urlaubsflieger geht vor Truppentransport.

Am Sonnabend eine ausgiebige Wanderung durch das schwülwarme Waldgebiet an der Ahr mit zweien meiner Brüder, einem Vetter, einer Cousine und sechs Vettern und Cousinen der nächsten Generation – knapp zwanzig wären möglich. Einkehr in einer Weinwirtschaft unter Obstbäumen. Lange Tafel, improvisierte Küche – die Holzgebäude, deren Baugenehmigung nach der Ahrtalkatstrophe drei Jahre auf sich warten ließ, sind noch nicht fertig. Großes Familientreffen. Bei Weißweinschorle und Hausmannskost ein längeres Gespräch mit meinem Onkel, dem Ältesten des Stammes mit seinen 90 Jahren; in der gesamten Verwandschaft der Letzte seiner Generation. Hat mit zwanzig sein Studium zum Handelsschullehrer begonnen, damit war das Leben auf dem Gleis. Im Dezember 2023 stürzte seine Frau von der Treppe und verstarb dann nach einer Woche im Krankenhaus an den Folgen der dort zugezogenen Covidinfektion. Seitdem kümmern sich meine drei Cousinen und eine der drei Töchter reihum um ihn.
Onkel und Tante stammten aus demselben Dorf. Er verdiente als Beamter das Geld, sie blieb ihr Leben lang Hausfrau. Das kleine landwirtschaftliches Vermögen, das sie mit in die Ehe brachte, legte er gut an. Er war der Erste aus der Sippe, der einen Mercedes fuhr und den Spiegel abonniert hatte. Wir bekamen die alten Jahrgänge und waren begeistert von der farbigen Werbung und den Fotos. Sie fuhr immer einen Zweitwagen, mit dem NSU Prinz 120C fing es an. Meine Tante war die Seele, fast wie ein Mädchen, ihr rheinischer Singsang verstärkte das auf eine beinahe parodistische Weise. Sie sind nur einmal umgezogen, in ein Haus am Stadtrand, nebenan stand noch eine Scheune, der Blick aus der Küche ging endlos über die Felder. Diese Lage hatte beiden so gefallen – sie kam vom Bauernhof, den man bis heute Sevrinkes nennt, weil er mal Severin Jansen gehörte.
Jemand hat einen Stammbaum zum Treffen mitgebracht. Wir Älteren fügen Puzzleteile aus der Kindheit zusammen, erwähnen Dinge, die die Jüngeren von den Eltern nicht wussten: Inmitten von Tabakdunst und Kaffeegeruch an der Kuchentafel Ringkämpfe mit dem Onkel, während im Fernseher das gehobene sonntägliche Sportprogramm lief: Fußball (nur Zweite Liga), Formel 1, Springreiten, Segeln, Turnen und Eislaufen. Bei Letzterem sahen meine Cousinen gebannt zu.

Meine Sohn verlässt die Tafel und geht mit zwei seiner Cousins auf den Kirmesrummel der kleinen Stadt. Jetzt haben wir zwei Stofftiere mehr im Haus. Ich unterhalte mich mit einem Vetter, der seit dreißig Jahren in und um Köln als freier Mitarbeiter von TV-Produktionen sein Geld verdient, neuerdings als Vlogger. V steht für Video – du bekommst einen Auftrag, fährst los, filmst und schneidest das Bild-Material auch gleich. Die Übermitlung erfolgt noch vor Ort „aus dem Rucksack“, in dem sich entsprechende Software befindet. Auf das Video spricht dann ein „Reporter“ „seinen“ Text, der inzwischen in extrem guter Qualität, effizient und preiswert, von KI-Tools generiert wird – das Produkt Nachricht wird dabei immer gleichförmiger.

Während der Rückfahrt lauscht die Familie gebannt einem Hörspiel im Autoradio: „Theodor Chindler“, nach dem Roman von Bernard von Brentano. Eine Produktion des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1960, Regie und Sprecher: Gert Westphal, außerdem dabei: Pinkas Braun, Hans Paetsch und andere stimmliche Hochkaliber. Der Erste Weltkrieg als tiefgehender Bankrott der deutschen Gesellschaft, der europäischen insgesamt. Brentanos 1936 erschienener Text verwebt historische Fakten mit politischen Reden und Fiktionalem. Es ist der verzweifelte Sound der Paradigmenwechsel, den man bis heute hört. Die vermeintliche geistig-moralische Überlegenheit war immer das Außenmerkmal der bürgerlichen Stände – damit konnten und können sie ihre Bereicherungspraktiken perfekt überdecken. Interessant, wenn dann aus so einem Milieu Rebellen wie Friedrich Nietzsche oder Ernst Jünger hervorgehen. In dessen „Antibes“ las ich gerade den Bericht über einen Fremdenlegionär, der Lavendelpflückerinnen rektutieren musste. Die kamen mit Polentabeuteln aus ihren Abruzzendörfern und konnten weder lesen noch schreiben.

Ruhiger Sonntag. Die Krankheit macht mir immer noch zu schaffen – der Magen erholt sich nur mühsam, der Grundtonus ist weg. Schaue mit der Jüngsten das ultimative Entschleunigungsvideo. In dem repariert ein Typ einen Mercury Montego MX. Knapp zwei Stunden, keine Musik, kein Sprecher, man hört nur die Originalgeräusche, ab und an werden kurze erklärende Untertitel eingeblendet. Meine Tochter ist komplett von den technischen Kausalitäten fasziniert: Wenn das eine auf und ab geht, dreht sich das andere – „Wie bei Lego!“ Ihre Begeisterung, als der Motor erstmals anspringt, eine Wolke aus dem rostigen Auspuff aufsteigt, er ganz ruhig weiterläuft – „Geil!“ Sie weiß jetzt, wie ein Explosionsmotor funktioniert.

