Helko Reschitzki, Moabit
Am Sonntag mischt sich unter das Geläut der Vaterunser-Glocke, das die Schlachtenseeer in die Johanneskirche ruft, ein für mich zunächst nicht zuortbares Geräusch: leicht auf- und abschwellend, wie das Echo einer fernen Sirene. Im Wasser dann die Aufklärung: Jemand lässt ein ferngesteuertes Boot über die leichten Wellen pesen. Es ist aber nicht das der Stadtreinigung – deren Bötchen sind langsamer und größer, wie ich im letzten Jahr mitbekam, als ich in ein Pilotprojekt für das Auffinden von Gegenständen in Gewässern stolperte, und der Müllmann an der Konsole sichtlich Spaß hatte.

Am Montag geht plötzlich alles sehr schnell in der bis dahin leeren Schlachtenseebucht: Einflug Graureiher, Einschwimmen zweier Schwäne, kurz darauf, nach langer Zeit, mal wieder ein Blässhuhn, das aus den Schilf kommt – drei Tage zuvor die Haubentaucher: Die Vögel sind ja nicht weg, nur halt woanders. Auf dem Rückweg dann fünf Kormorane auf dem Schildkrötenbaum – in der Häufung sah ich das noch nie. Am Dienstag wieder nur Fische und Insekten vor Ort.

140 Kilometer weiter südlich am Abend: Alfred-Kunze-Sportpark, Heimstatt der BSG Chemie Leipzig. Hier war ich noch nie – was für ein schönes, altes, charmant runtergerocktes Stadion! Ich fühle mich an solchen Orten sofort zuhause. Es riecht nach Bier und Bratwurst, der Kapo brüllt durchs Megaphon, die Ultras machen sich schon mal warm – und mit ihnen die Kids: Was für eine Freude, all die Kinder zu sehen, die in der Sportstätte ihres Herzens auf Zäunen schwankend lokales Liedgut schmettern und dazu ultimativ lässig synkopische Polyrhythmen klatschen. Noch 30 Minuten bis zum Anpfiff: Chemie gegen Rot-Weiß Erfurt, Ostderby, Regionalliga Nordost, gelb-weiß-grüne bzw. rot-weiße Fahnen. Ausverkauft, Flutlicht. Perfekt! Auf den Kutten der Heimfans merkwürdigerweise viel Schwarz-Weiß-Rot plus Adler – haben etwa die Reichsbürger den Verein übernommen? Nein, es besteht eine Fanfreundschaft zu Eintracht Frankfurt – was dann auch der Adornowürstchen-Aufkleber auf dem Klo bestätigt.

Der Chemie-Spielemacher wegen einer am selben Tag verhängten (!) „Vorsperre“ (?) nicht dabei. Da gabs beim Spiel in Halle ein Hand- und Fußgemenge mit Fans – das Sportgericht des Nordostdeutschen Fußballverbandes in der Sache in etwa so seriös und besonnen wie ein fentanylsüchtiger Hütchenspieler frisch auf Entzug. Der Chemie-Trainerstab also mit Plan B am Start – und der ist nach anderthalb Minuten komplett hinfällig: Direkt Rot für einen ihrer Verteidiger – Foulspiel als letzter Mann. Das Stadion flippt aus: „Schiri, du dumme Sau! Nie im Leben! Geht das schon wieder los. Scheiß De-Eff-Bee!“ Um dann dem Nachbarn zuzuraunen: „No, gonn mon schon geben.“ Erfurt anschließend im Powerplay, aber der Leiziger Torwächter in Weltklasseform, dazu eines dieser Tacklings, in denen der Spieler im allerletzten Moment noch seinen Großen Zeh ausfährt – alle Grün-Weißen machen die Becker-Faust und brüllen „Jaaaaaaaaaa!“, Rot-Weiß haut sich die Hände an den Kopp und schreit „Noooooooo!“ Von Chemie kommt nüscht außer vollkommen halbherziges Kick and Rush – nur ohne Rush. Dann erreicht uns, was wir seit geraumer Zeit tintenduster auf uns zukommen sehen: Eine Monsterschauerwand, die umgehend jeden durchweicht, der kein Dach über sich hat – wir haben schnell eins, und werden dadurch etwas langsamer nass. Der Doppelblock der unbedachten Ultras sieht nach ein paar Minuten wie die Massenertränkungsstätte tausender schwarzer Katzen aus.

Mit dem Regenguss kommt für Chemie dann doch noch ein wenig Entlastung, ja, sogar mehr als das: drei Großchancen – die aber alle pariert werden. So geht es mit 0:0 in die Halbzeitpause. Der zweite Durchgang beginnt mit der nächsten kalten Dusche für die Leipziger: 0:1 in der 48. Zwei Minuten später Gelb-Rot für einen Erfurter und kurz Hoffnung – mehr passiert dann aber nicht, außer dass die 1600 thüringer Schlachtenbummler immer mal wieder Bengalos abfackeln, was absolut keinen stört – ich hörte auch noch nie eine so lustlose Stadionsprecherdurchsage, dieses bitte zu unterlassen. Die Polizei und beide Lager den gesamten Abend tiefenentspannt. Bis auf die Knochen durchnässt finden alle Fans ihre jeweilige Regionalbahn.

Ich besuche in Leipzig meinen alten parchimer Weggefährten und Freund Frank nebst Familie. Hin- und Rückfahrt mit Flixtrain laufen perfekt – von denen könnte sich die Deutsche Bahn gern etwas abschauen. Beim Frühstück blättern mein Gastgeber und ich die LVZ durch – der Spielbericht deckt sich mit dem, was wir am Vorabend im Stadion sahen. Außerdem in der Ausgabe ein sehr interessantes Portrait von zwei rumänischen Erntehelferinnen, die seit Jahren auf deutschen Feldern arbeiten. Sie erzählen von „guten und schlechten Höfen“ und sagen Sätze, die auch von meiner Oma, einer Magd im Mecklenburgischen, hätten stammen können. Unsere Supermarkt-Gemüse- und Obstkisten werden oft von Menschen befüllt, die noch wie die Generation meiner Großeltern arbeiten müssen. Nach dem Morgentee drehen Frank und ich eine ausgiebige Innenstadtrunde.

Zuerst sehen wir uns in der Stadtbibliothek die kleine Ausstellung „Hexenverfolgung in Leipzig“ an. Wer verstehen möchte, seit wann Angstappelle, Visualisierung oder Framing als Machtinstrumente eingesetzt werden, sollte sich mit dieser Zeit beschäftigen. Danach gehts in die Antiquariate in Nähe der Nikolaikirche. Als einer der Händler meinen Stapel Russenbücher sieht, erzählt er, dass er die nun mit anderen Augen als in der DDR liest – ich lese sie erstmalig, er gibt mir Lektüretipps. Dann reden wir über Bücher als Heimat, dem beruhigenden Gefühl, das von den Rücken im Regal ausgeht.

Während ich mir am Sternwartenweg einen Reiseproviantapfel für die Rückfahrt pflücke, erzählt Frank die Spekulationsgeschichte ums Technische Rathaus, dessen Ruine wir hinter den Kleingärten sehen. Im Botanischen Garten kreisen Libellen über der Wassernussschale; im „Schattenbeet der Vielfalt“ steht der Behaarte Zwergginster – Pflanzen- und Namensfreunde kommen hier voll auf ihre Kosten.

Auf meinen Wunsch hin besuchen wir die St.-Alexi-Gedächtniskirche zur Russischen Ehre. Die wurde 1913 eingeweiht und erinnert an die tausenden russischen Soldaten, die in der Völkerschlacht fielen und zur Befreiung der deutschen Gebiete von der Herrschaft Napoleons beitrugen. Seit Jahren treffen sich hier christlich-orthodoxe Gläubige russischer, ukrainischer, weißrussischer, bulgarischer und deutscher Herkunft – bei den Andachten ist es so voll, dass alle stehen, wie die nette Kirchendame erzählt. Ich bin wie immer überwältigt von der 18 Meter hohen Ikonostase, der Architektur und der sakralen Musik, die den Raum erfüllt. (Die entsprechende CD wird von mir erworben.) Nach einem späten Mittagessen klönen wir noch etwas, dann gehts zurück nach Moabit. Ein gewohnt lohnender Ausflug nach Sachsen.



Das Bundesumweltministerium informiert: „Seit dem 3. Juli 2024 müssen in der EU Deckel von Einweggetränkebehältern mit einem Fassungsvermögen von bis zu drei Litern fest mit dem Behälter verbunden sein. Grund für die Einführung der befestigten Deckel und Verschlüsse, der sogenannten Tethered Caps, ist die EU-Einwegkunststoffrichtlinie.“ Ein gutes Jahr später sehe ich erstmalig jemanden aus so einer Flasche trinken. Es sieht komplett falsch aus – im Gegensatz zu den Kormoranen, die sich Donnerstagfrüh wieder auf dem Schildkrötenbaum am Schlachtensee eingefunden haben.

Freitag erspähe ich nach langer Zeit endlich mal eine Wespe! Ich habe diesen Sommer nur wenige gesehen – was aber auch daran liegen mag, dass ich nicht um Kuchenbleche oder Limonadenkrüge herumschleiche. Mich erreicht die Meldung, dass in Albanien die weltweit erste virtuelle, KI-gestützte Ministerin ihre „Antrittsrede“ gehalten hat. Per SMS frage ich eine albanischstämmige Freundin, was da bitteschön in ihrer alten Heimat los sei. Sie sendet eine lange Reihe Entsetzens-Emojis und ein paar nicht rechtssicher zitierbare Anmerkungen zum Präsidenten „Bouffon Edi Rama“ – Informationen aus erster Hand sind durch nichts zu ersetzen. Wenn man das alles durchdenkt, handelt es sich bei dieser Fake-Ministerin-Aktion um die absolut folgerichtige Fortsetzung des Plots von „Wag the dog“.
