Christoph Sanders, Thalheim

Unter den Autoreifen der Pendler knistern die reifen Haselnüsse. Vor Sonnenaufgang haben sich fünf Krähen beinahe symmetrisch am Kirchturmkreuz gruppiert. Sie verschwinden, als der überschöne Frühmorgenhimmel in den grauen des Tages übergeht. Am Abend zuvor eine partielle Mondfinsternis – der Trabant stand ideal im Osten auf Viertelhöhe. Mit dem Fernglas sah man plastisch die graurote Kugel, die von unten links von einer Sichel überschoben wurde. Gegen sieben verlor sich der nunmehr helle, etwas eirige Ball am anderen Ende des Horizonts. Ein Montagmorgen in Mittelhessen. Leise rauschen die Airliner, lautlos huschen die Vögel vorbei. Die ersten Nachrichten des Tages. Der große Dohnányi ist gestorben. Brahms! Cleveland! Verneigung. Vorhang. Die Nachrufe alle brav zusammengetragen und ohne jeden Bezug des Autors zum Thema. Anschließend Checken der Ergebnisse der WM-Qualifikationsspiele.

Im Tagesverlauf leichte Schauer und mild. Das Aroma der Giersch-Gras-Mischung, mit der ich unsere Hasen füttere, riecht intensiver als im Hochsommer. Der britische Naturschützer Gerald Durrell bezeichnet den Herbst als die zweite große Insektenperiode einer Wiese – eine Phase intensiver biologischer Aktivität, die sich positiv auf Biodiversität, Nährstoffkreisläufe, Bodenstruktur und Mikroklima auswirkt. Das interessiert hier aber die wenigsten – die Rasentapete ist die Norm, der Mähroboter hat sich durchgesetzt. Ich hingegen gehe nicht nur da, sondern auch im Rotkreuzladen über ästhetische Fragen hinweg – beim Kauf des Wollpullis mit V-Ausschnitt und der olivgrünen Hose aus guter Baumwolle zählt für mich einzig das Material. Am Nachmittag und Abend Weiterarbeit an zwei Texten.

Dienstagfrüh fahre ich mit einem befreundeten Pathologen in die veregnete Eifel, um ihm beim Boxenneukauf für seine Musikanlage zu beraten. Er macht in einem Krankenhaus Biopsien, analysiert Gewebeproben – eine hyperpräzise Arbeit unter Dauerstress. Es dauerte vierzehn Jahre, bis er seine erste Diagnose selbständig erstellen durfte. Am Wochenende hört er überlaut Klassik „um runterzukommen“, wie er sagt. Musik als Therapie. Beim Blick aus dem Auto bestaunt er immer wieder die Schönheit der Wälder, jene Ausblicke, die ich oft auf dem Fahrrad genieße. Er liebt seine Leistungsfähigkeit, sein Einkommen, das Gefühl „es geschafft“ zu haben. Anscheinend bleibt bei alledem dann kaum noch Energie oder Interesse für anderes. Auch in seinem Arbeitsfeld zeichnet sich zunehmend ab, dass er nach und nach von KI-Anwendungen ersetzt werden wird – was sein Stresslevel wohl eher erhöht als senkt. Während der Fahrt raucht er viel – solche Zigaretten, wie sie die meisten rauchen: Nikotin plus Dreck. Irgendwie traurig – hoffentlich erreicht er die Rente. Beim Vintage-Hifi-Händler ist er wie alle anderen vor Vorfreude aufgeregt. Wir testen verschiedene Boxen. Der Klang ist jedesmal so brillant, dass ihm beim Hören seiner Lieblings-CDs beinahe die Ohren abfallen. Er bedankt sich sehr, weil er durch meine Beratung immens viel Zeit und Geld gespart hat. Da hat mein Orchideenwissen wenigstens ein Mal jemandem genutzt.

Aus NRW und Teilen der Eifel werden heftige Regenfälle gemeldet – man erinnert sich plötzlich des Ahrtals. Land unter herrscht heute aber andernorts. Es gab vage Vorwarnungen – aber wenn die Kanäle erst einmal voll sind, ist nichts mehr zu ändern. Viele stecken fest, sind in ihren Jobkapseln gefangen. Bei uns nur Schauer. Ein kühler Tag voller Familienarbeit. Für Besorgungen ins ruhige Westerburg: Lebensmittel, Müllbeutel, Glitzerschwämme (Damit bekommt der Hausmann jede Pfanne sauber!) Die Landwirtschafts-Zeitung gibt angesichts des „zusammengebrochenen“ Kartoffelmarkts Tipps zur Verfütterung des „Überschusses“. Rinder und Schweine dürfen sich freuen. „Während Corona hat unsere Klinik nur Verluste gefahren“ – so der Pathologe über die OP-Ausfälle. Deutschlands Krisen. Aber die Müllabfuhr funktioniert, wie ich an dieser Stelle versichern kann. Die Textarbeit auf der Zielgeraden. Später die Kinder und das Auto abholen, rüber zum Ballett. Bei mir eine leiche Magenverstimmung – nicht schlimm, aber es drückt: Brühe, Tee und Maiswaffeln. Dazu Rachmaninow 1 und 2, mit Vladimir Ashkenazy und Bernard Haitink.


