Helko Reschitzki, Moabit
Der Monat beginnt gleich mit einer guten Nachricht – seit heute hat Berlin einen Harald-Juhnke-Platz: Ecke Kudamm, Grohlmann- und Uhlandstraße, direkt neben den Bühnen – perfekt! Wann immer man einen alten westberliner Taxifahrer zu fassen bekommt, sollte man ihn mal ganz beiläufig fragen, ob es stimmt, dass die praktische Prüfung seiner Innung bis 1989 darin bestand, von jedem Punkt der Halbstadt aus Juhnkes Wohnung anzusteuern. Oder, was es mit dem Button auf dem Nachttisch des Entertainers auf sich hatte … Die Antworten werden beginnen mit: „Das war ja alles noch viel wilder!“ Glücklich kann sich jener schätzen, der einmal im Leben so geliebt wird wie die Taxifahrer von Harald Juhnke – und umgekehrt. Nun haben wir hier einen Juhnke- und Rio-Reiser-Platz, eine Tamara-Danz- und Helga-Hahnemann-Straße, am Mauerpark den Bärbel-Bohley-Ring – manchmal macht unser Senat auch etwas richtig.

Die Sonnenaufgänge derzeit spektakulär, auch die Wolkenbilder. Am Tage mal knallsonnige 27 Grad, nachts Abkühlung bis an die Grenze zur Einstelligkeit, mal feiner, mal dickerer Regen. In diesem im See zu schwimmen ist eine meiner größten Alltagsfreuden – die durch den Tropfeneinschlag hochschießenden Worthington-Strahlen sehen aus wie grau-schwarze Sternschnuppen, um meinen Kopf herum ein leises Prasseln und Ploppen, der leichte Wind macht sanfte Wellen.

Mittwochfrüh gehe ich in der Rehwiesensenke durch einen dichten Nebel auf die über 450 Jahre alte Eiche zu. Danach gleite ich im sich auflösenden Schleier durch den Schlachtensee – die 200 Meter entfernten, dunklen Köpfe der Mitschwimmer sehen wie bewegliche Tierspuren im Schnee aus. Leben wie in einem Werner-Herzog-Film.

Als ich am Mittwochnachmittag aus der Haustür trete, bekomme ich einen Schreck – die gesamte Straße ist voller Leute! Das habe ich hier bislang nur Silvester kurz vor Mitternacht gesehen, oder im Juni 2002 als die Türken das WM-Halbfinale erreichten. Rettungswagen, mehrere Löschzüge, Polizei. Am Haus gegenüber wurde bis unters Dach eine Drehleiter hochgefahren – ein Wohnungsbrand. Ich stutze – an der Menschenmasse ist irgendetwas seltsam. Dann fällt mir die Stille auf. Keiner spricht laut, keiner ruft. Man steht und sieht nach oben, einige filmen mit ihren Handys. Es ist diese Stille, die oft auf schreckliche Ereignisse folgt. Wo jeder, trotz seiner Schaulust und Neugier, in sich geht, sich ausmalt, wie es wäre, wenn das ihm und seiner Familie passieren würde, Anteil nimmt. Es ist die Stille, die ich aus Fußballstadien kenne, wenn einem der Zuschauer oder Spieler etwas passiert ist, die Gesänge aufhören und die Ultras ihre Fahnen einrollen. Es ist die Stille in den Tagen nach dem Terroranschlag auf dem Breitscheidtplatz. Nach ein paar Stunden ist der Großeinsatz beendet, lediglich am schwarzen Loch der ausgebrannten Wohnung sieht man von außen noch, was dort am Nachmittag geschah.

PC-Notruf meines moabiter Freundes Zlatomir. Ich eile! Das Problem ist in 37 Sekunden beseitigt. Wie immer kommen wir ins Klönen. Auf seinem Tisch liegt Jevgenij Samjatins 1920-21 geschriebener Roman „Wir“, der mir unbekannt ist: In einem Einheitsstaat tragen die Bürger statt Namen Nummern, alles wird überwacht, das Leben ist streng reglementiert. Ich berichte von den Russenbüchern, die ich kürzlich las: Marina Zwetajewas autobiografische Prosa (Zlatomir ist wie ich von M.Z. begeistert), Andrej Platonows „Tschewengur“, Michail Prischwins „Der irdische Kelch“, meine aktuelle Lektüre „Zyniker“ von Anatoli Marienhof. Alles so um die einhundert Jahre alt. Wir sind uns einig, dass man in den Texten, die in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution entstanden, so einiges von dem wiederfindet, was gerade in vielen Ländern passiert: Ideologie trifft auf Realität, eine städtische Sicht auf den Dorfblick, die Industrialisierung hat viel mit den KI-Umwälzungen gemeinsam. Unterschied zwischen damals und heute: Seinerzeit begegnete man all den Zumutungen, Heraus- und Überforderungen, den Apparatschiks und Dumpfmedien mit grimmigem, schnellem Alltagshumor und hintersinniger Schläue. Das fand sich später im gesamten Ostblock wieder und hielt sich bis zu dessen Zusammenbruch. Zlatomir und ich vermissen diese Haltung ein wenig. Wir machen beide Notizen – ich bekomme neben Samjatin noch Iwan Bunins „Dunkle Alleen“ und Leonid Andréev empfohlen.

Am Donnerstag läuft meine Waschmaschine aus. Am Rand des Bullauges war ein Stück Stoff eingeklemmt, wodurch sich ein Spalt gebildet hatte. Ich hoffe, dass dadurch kein bleibender Schaden entstanden ist. Ich verbringe den Abend wischend und wringend.

